Der Scherbensammler
Es war ein gemütliches Geräusch, das ihn an Holzplanken und Boote erinnerte. Plötzlich packte ihn die Sehnsucht nach Wasser und Wind und salziger Luft. Er schluckte.
»Herrgott noch mal!« Mina rutschte auf die Bettkante und setzte die Füße auf den Boden. »WEIL ICH NICHT WILL!«
Tilo vergaß das Meer und den Wind.
»Die Frau, die sich meine Mutter nennt, war immer nur für andere da. Nie für mich. Niemals! Kapiert?« Sie schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. Ihr Blick wanderte zum Fenster, vor dem ein schwüler Spätsommertag zu Ende ging. »Jemand, der seinem Kind gegenüber kein Erbarmen kennt, darf von seinem Kind kein Erbarmen erwarten.«
Tilo machte sich eine Notiz. Die Stille im Zimmer wurde dichter. Es würde ein Gewitter geben. Alles deutete darauf hin.
»Ich weiß, was Sie erwarten.« Die Matratze ächzte, als Mina aufstand und zum Fenster ging. »Sie wollen, dass ich zu Kreuze krieche. Alle Psychotherapeuten wollen das.« Sie strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Es gibt ihnen Frieden.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Ach nein?« Sie drehte sich langsam um. Ihr Gesicht hatte sich verändert, war schmaler geworden und hatte um den Mund herum einen harten Zug bekommen. »Haben Sie es etwa nicht gern hübsch geordnet in Ihrem Leben und in Ihrem Kopf?«
»Selbst wenn - was hätte das mit dir und deiner Mutter zu tun?«
»Ich glaube«, Mina sah ihn kühl und herablassend an, »ich glaube, ich habe Ihnen nicht gestattet, mich zu duzen.«
»Verzeihung.« Tilo kniff die Augen zusammen.
»Sie haben keinen blassen Schimmer, mit wem Sie gerade sprechen, stimmt’s?«
Tilo schüttelte den Kopf. Er durfte jetzt nichts Falsches sagen.
»Und Sie?«, fragte er vorsichtig. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ich bitte Sie! Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz.« Ein feines Lächeln flog über das angespannte Gesicht. »Ich kenne Sie fast so gut wie mich selbst.« Ein forschender Blick, direkt in Tilos Innerstes hinein.
Tilo hielt dem Blick stand. »Verraten Sie mir denn auch, mit wem ich es zu tun habe?«, fragte er dann.
Das Schweigen füllte das ganze Zimmer aus.
»Sie wollen wissen, wer ich bin? Das kann ich Ihnen sagen. Ich bin Marius.«
Bert saß am Schreibtisch und betrachtete nachdenklich die Pinnwand in seinem Büro. Er hatte inzwischen schon eine ganze Reihe Informationen gesammelt. Ein Foto des Ermordeten, das vor der alten Fabrik aufgenommen worden war, bildete das Zentrum. Darum herum ordneten sich weitere Fotos und Namen, die einen inneren, einen mittleren und einen äußeren Kreis bildeten. Zum inneren Kreis gehörte Mina, die einzige Tochter der Kronmeyers, die seit gut vier Wochen verschwunden war.
Niemand wusste, wo sie sich aufhielt, nicht einmal ihre Mutter. Es lag nahe, den Grund für ihr Verschwinden in der Sekte zu suchen, die viel Energie darauf verschwendete, zu behaupten, sie sei lediglich ein religiöser Zirkel. Bert wagte es kaum, sich eine Kindheit in einem so engen religiösen Korsett auszumalen. Das konnte nur zu totaler Anpassung führen oder zu Flucht.
Heute wollte er sich diesen Ben Bischop vornehmen. Sein Instinkt sagte ihm, dass der junge Mann mehr wusste, als er zugab. Er war ein Jahr älter als Mina. Die beiden waren zusammen aufgewachsen.
»Wie Bruder und Schwester«, hatte Marlene Kronmeyer gesagt und Ben liebevoll angelächelt.
Ben hatte ihr Lächeln scheu erwidert und dann den Kopf gesenkt. Er hatte das Wohnzimmer verlassen und war über den Hof zur Werkstatt gegangen. Marlene Kronmeyer hatte ihm durchs Fenster nachgeschaut.
»Er leidet sehr«, hatte sie gesagt. »Er macht sich Vorwürfe, weil er nicht besser auf Mina aufgepasst hat.«
Eine sonderbare Formulierung, hatte Bert gedacht. Als wäre das Mädchen eine Gefangene gewesen und der Junge ihr Wärter.
»Aber er hätte Mina gar nicht zurückhalten können. Sie hat ihren Kopf immer durchgesetzt. Gegen alle Schwierigkeiten und jede Vernunft.«
Niemand hatte anscheinend auch nur für einen Moment daran gezweifelt, dass Mina aus eigenem Antrieb verschwunden war. Keiner schien ein Verbrechen in Erwägung zu ziehen. Niemand hatte bislang eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Einige von Minas Kleidungsstücken fehlten, wie Marlene Kronmeyer festgestellt hatte, und auch der große Rucksack des Mädchens war nicht auffindbar. Das sprach dafür, dass Mina ihr Elternhaus freiwillig verlassen hatte. Sie war achtzehn und konnte selbst entscheiden, wo sie leben
Weitere Kostenlose Bücher