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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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haben wir genug um die Ohren«, sagte sie. »Wir haben eine neue Mitbewohnerin. Keine, mit der es sich leicht leben lässt. Im Gegenteil. Eine, die ziemlich schwierig ist.«
    Sie unterhielt sich gern mit Smoky. Er gab ihr Antwort mit seinem beeindruckenden Repertoire an Lauten oder er hörte zu, verschwiegen und geduldig, mit schräg geneigtem Kopf. Ihm konnte sie alles erzählen. Er bewertete nicht, verurteilte nicht, seine Liebe war nicht an Erwartungen oder Bedingungen geknüpft. Sie war einfach da.
    Merle musste nicht alles aussprechen. Smoky verstand sie auch so. Er erspürte die meisten ihrer Gedanken und Gefühle. Es war schön, ihn zum Freund zu haben.
    »Sie heißt Mina und ist eine Patientin von Tilo.« Merle tauchte den Schwamm ins Wasser und schrubbte verbissen die Wandkacheln ab. Sie hatte noch einige Quadratmeter vor sich.
    »Hältst du es für möglich, dass man einen Mord begeht und sich anschließend nicht daran erinnern kann?«
    Smoky schnurrte. Er leckte eine Pfote und rieb sich damit übers Gesicht.
    »Gut, man kann durch einen Schock das Gedächtnis verlieren. Für kürzere oder längere Zeit. Aber Mina vergisst ständig alles Mögliche. Sie wohnt jetzt seit einer Woche in Mikes Zimmer, und immer wieder kommt es vor, dass sie Jette und mich nicht erkennt! Dass sie vor uns steht und uns anguckt wie Fremde!«
    Merles Hände schwitzten. Sie hasste es, Gummihandschuhe zu tragen, aber das hier war ohne Schutz nicht zu machen.
    »Sie verhält sich in allem ziemlich merkwürdig. Kaum denkst du, du hast sie ein bisschen besser kennengelernt, da zeigt sie sich plötzlich von einer vollkommen anderen Seite. Auch Donna und Julchen haben Schwierigkeiten mit ihr. Mal schlafen sie bei ihr auf dem Schoß und im nächsten Moment zerkratzen sie ihr die Arme.«
    Smoky beschnupperte einen der Gummihandschuhe und wich angewidert zurück. Er sah Merle mit einem leisen Vorwurf an.
    »Und Tilo gibt uns nicht den winzigsten Hinweis, der uns helfen könnte, Mina zu verstehen. Er sagt, dazu muss sie ihn erst von seiner Schweigepflicht entbinden. Doch das will er nicht zulassen, bevor sie wieder halbwegs auf dem Damm ist und eine Entscheidung von solcher Tragweite überhaupt treffen kann.«
    Damit schien für Smoky alles gesagt zu sein. Er legte sich  hin, zog die Vorderpfoten unter den Bauch und schloss die Augen.
    Merle lächelte. »Das hab ich gebraucht«, sagte sie liebevoll. »Deine unnachahmliche Gelassenheit.«
    Sie schaute auf die Uhr. Eine gute Stunde noch, dann würde sie nach Hause fahren. Sonst hatte sie sich immer aufs Nachhausekommen gefreut. Inzwischen mischte sich in diese Freude ein Unbehagen, das sie gar nicht mehr zu unterdrücken versuchte, weil es ihr sowieso nicht gelang.
     
    »Ich kann mich nicht erinnern!«
    Wie oft Tilo diesen Satz von Mina hörte. Diesen stummen Schrei. Die Bitte um Hilfe. Doch Tilo hörte auch die Anklage darin. Er wusste, wen Mina anklagte. Sich selbst. Sie konnte sich nicht verzeihen, dass sie ihr Leben nicht mehr allein in den Griff bekam. Dass sie auf Hilfe angewiesen war. Und dass sie sich in einer Lage wie dieser verfangen hatte.
    Es hatte keinen Sinn, sie zum jetzigen Zeitpunkt mit dem Mord an ihrem Vater zu konfrontieren. Das blockierte sie nur noch mehr. Er musste erst versuchen, Mina wieder an den Punkt der Therapie zurückzuführen, den sie erreicht hatten, bevor ihr Leben auf den Kopf gestellt worden war.
    »Du wirst dich erinnern«, sagte er behutsam. »Irgendwann.«
    »Und wenn das zu spät ist - irgendwann?«
    Sie kreuzte die Arme vor der Brust und umfasste ihre Schultern, eine Geste, in die sie sich flüchtete, wenn der Druck zu groß wurde.
    »Du kannst es nicht erzwingen. Deine Erinnerung wird von ganz allein kommen. Wenn es an der Zeit ist.«
    »Das ist nicht fair.«
    Ihr Blick hatte sich an dem großen Wandgemälde festgesaugt. Warm leuchtende Sonnenblumen und ein Haus, das wie geschaffen schien für Heimatlose oder solche, die sich nach Ruhe und Frieden sehnten.
    Sie hatte recht. Es war nicht fair. Sie hatte so viel mehr zu verkraften als die meisten Menschen. Dabei war sie noch so jung.
    »Ich würde gern mit dir über deine Mutter sprechen, Mina.«
    Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Wie es ihr wohl geht?«, fragte sie leise.
    »Du könntest sie besuchen und dich selbst davon überzeugen.«
    Erschrocken schüttelte sie den Kopf.
    »Warum willst du sie nicht sehen, Mina?«
    Der Korbsessel, auf dem er saß, knarrte bei jeder Bewegung.

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