Der Scherbensammler
Straßengeräuschen, die durchs Fenster drangen. Tilos ungeheuerliche Enthüllung hatte mich verstummen lassen. Mein Mund war so trocken, als hätte ich in Kreide gebissen.
»Diese Persönlichkeiten können nach außen treten und sprechen und handeln. Sie leben in einem gemeinsamen Körper, wissen aber oftmals nichts voneinander.«
Tilo ließ Mina nicht aus den Augen, während er sprach. Möglicherweise dachte er dasselbe wie ich, dass Minas Zurückhaltung nämlich die Ruhe vor dem Sturm sein könnte.
»Und Mina?« Ich warf ihr einen Blick zu, aber sie reagierte noch immer nicht. »Weiß sie von diesen … anderen?«
Tilo nickte. »Von einigen, aber noch längst nicht von allen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis wir in der Therapie an diesen Punkt gekommen sind. Und es war ein hartes Stück Arbeit. Mina hat viel geleistet.«
»Aus welchem Grund spaltet sich eine Persönlichkeit denn überhaupt?«, fragte Merle.
Zum ersten Mal wandte Tilo den Blick von Mina ab. Er knetete seine Finger, und mir fiel auf, wie schön seine Hände waren, lang und schmal und gebräunt von der Sonne eines langen Sommers.
»Die Ursachen liegen fast immer in der Kindheit«, sagte er. »Ein Kind hat ein traumatisches Erlebnis, das es nicht bewältigen kann. Oft ist es sexueller Missbrauch. Aber es können auch andere Erlebnisse sein, die es so unter Druck setzen, dass es sich nicht mehr zu helfen weiß. In einer solchen Situation spaltet sich eine Persönlichkeit ab und übernimmt sozusagen die Schmerzen des Kindes. Dadurch bleibt das Kind selbst geschützt.«
»Und wie oft kann das geschehen?«, fragte ich.
»Ich habe von Multiplen gelesen, die mehrere Hundert Persönlichkeiten abgespalten haben«, sagte Tilo. »Mir selbst ist die Patientin eines Kollegen mit über achtzig Abspaltungen bekannt. Das Krankheitsbild ist so unterschiedlich, wie Menschen unterschiedlich sind.«
»Und wer …« Merle betrachtete Mina beklommen. »Wer ist Mina in diesem ganzen Durcheinander?«
Ein Lächeln huschte über Tilos Gesicht. »In Mina herrscht kein Durcheinander. Ganz im Gegenteil. Die Persönlichkeiten haben strenge Richtlinien, an die sie sich halten. Zumindest diejenigen, die wir mittlerweile kennen. Sie bilden so etwas wie ein System. In der Regel funktioniert dieses System, allerdings nicht immer. Was die Therapie erreichen will, ist ein möglichst reibungsloses Zusammenspiel aller Persönlichkeiten.«
System. Zusammenspiel. Richtlinien. Ich versuchte, mir das vorzustellen. Es gelang mir nicht. Tilo sah mir das wohl an. Er setzte zu einer weiteren Erklärung an.
»Es gibt in diesem System verschiedene Aufgaben, die erledigt werden müssen. Für diese Aufgaben sind jeweils bestimmte Persönlichkeiten zuständig. Jede von ihnen kann gewissermaßen vom Körper Besitz ergreifen und unabhängig von den anderen agieren.«
»Und wo bleibt Mina in dieser Zeit?«, fragte ich.
»In Mina existiert so etwas wie eine innere Welt«, erklärte Tilo. »Dort halten sich die Persönlichkeiten auf, wenn sie nicht draußen sind, das heißt, wenn sie sich nicht in unserer Welt bewegen. Im Zentrum dieser inneren Welt befindet sich eine Höhle. Inmitten dieser Höhle, sorgsam geschützt, befindet sich der Kern von Minas Persönlichkeit. Alle Alters haben vor allem ein Ziel: diesen Kern vor Schaden zu bewahren.«
Merle hielt den Atem an. Man konnte es förmlich spüren. Sie spähte zu Mina hinüber.
Tilo war ihrem Blick gefolgt. »Minas Körper«, sagte er, »ist quasi die Hülle für das gesamte System.«
»Dann …«, Merles Stimme versagte, »…dann gibt es Mina eigentlich überhaupt nicht?«
Tilo rieb sich die Augen. Er war müde. Und er wusste, dass er noch viel zu erklären hatte. »Doch. Natürlich gibt es sie. Stellt euch einen funkelnden Diamanten mit unzähligen Facetten vor. So ist Mina.«
»Oder ein zerbrochenes Glas«, sagte Mina und drehte langsam den Kopf. »In tausend Scherben zersprungen.«
Tränen glitzerten in ihren Augen. Ich hätte gern ihren Arm gestreichelt, aber ich wagte es nicht. Ich wusste nicht mehr, wer sie war.
Was hatte er inzwischen über Dietmar Kronmeyer erfahren? Bert ging zur Pinnwand und überflog seine Anmerkungen. Es waren viele, aber längst nicht genug, um ihn auch nur einen Schritt weiterzubringen. Der Chef wurde nervös. Er verlangte Tempo. Der Chef und die Praxis, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe.
Sicher war, dass Dietmar Kronmeyer wesentlich mehr Feinde als Freunde gehabt hatte. Bert war bisher
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