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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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sich zu mir aufs Sofa, zog die Beine an und legte das Kinn auf die Knie. Sie hatte sich in ihre weiteste Leinenbluse gekuschelt und trug ihre Marlene-Dietrich-Hose. Oft kam es mir vor, als versuchte sie, auf diese Weise zu verschwinden. Dann sah sie aus wie ein Kind in den Kleidern seiner Mutter.
    Ich schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. »Zehn Minuten hat er noch.«
    »Zehn Minuten …«
    Ich warf einen raschen Blick auf ihr Gesicht. Sie wirkte entspannt. Ich atmete auf.
    Auch heute verzichtete Mina aufs Frühstück. Stattdessen nahm sie das Nutellaglas aus dem Schrank und löffelte es in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit halb leer. Dieser Heißhunger auf Süßes war mir schon viele Male aufgefallen. Dann wieder war sie verrückt nach sauren Gurken und Lakritz. Nicht mal ihre Vorlieben und Abneigungen passten zueinander.
    »Du bist nicht zufällig schwanger?«, fragte ich sie.
    »Dann wäre ich ein medizinisches Wunder.« Mina grinste mich breit an. »Aber vielleicht ist Parthenogenese ja auch bei Menschen möglich.«
    Das Wortungetüm stieß eine entfernte Erinnerung in mir an. Allerdings hatte Biologie nie zu meinen Lieblingsfächern gehört. »Und kannst du mir das auch in verständlichem Deutsch erklären?«
    »Jungfernzeugung«, sagte Mina. »Manche Tiere und Pflanzen vermehren sich eingeschlechtlich. Zum Beispiel die Kopflaus.« Sie grinste noch breiter und sah mir dabei zu, wie ich mich unwillkürlich kratzte.
    Wir lachten. Es war überwältigend, mit Mina zu lachen. Ihre strahlenden Augen zu sehen. Die kleinen Kiekser in ihrer Stimme zu hören. Zu beobachten, wie sie sich den Bauch hielt und vor Anstrengung japste. Am liebsten hätte ich ewig so mit ihr weitergelacht. Doch dann klingelte es, und es war, als legte sich ein Schleier über Minas Gesicht.
     
    Heute war ihr nicht nach Reden. Sie hätte gern still dagesessen und zum Fenster hinausgeschaut. Sie hätte auch gern irgendwo in sich eine Art von Traurigkeit gefunden. Ihr Vater war nicht mehr da. Musste sie ihn nicht vermissen?
    Und ihre Mutter? War es nicht die Pflicht einer Tochter, die Mutter zu trösten, wenn sie Trost brauchte? Ganz unabhängig davon, dass sie selbst niemals von ihrer Mutter Trost empfangen hatte. Oder auch nur Verständnis.
    »Sie ist immer bloß um ihn gekreist!«
    »Von wem sprichst du, Mina?«
    Wie beruhigend Tilos Stimme war.
    »Von meiner Mutter und dem Mann, der mein … Vater gewesen ist.«
    Das Wort kam ihr kaum über die Lippen. Sie nannte ihn nicht gern so. Außerdem hatte er es nicht verdient. Für sie war er immer nur der große Vermittler gewesen, der Vermittler zwischen den Menschen und Gott. Fast war er selber ein bisschen wie Gott gewesen. Seine Gegenwart hatte die Menschen geblendet. Im Licht seiner Persönlichkeit waren sie zu Asche zerfallen.
    Mina erinnerte sich an Männer, die das Zimmer des Vaters aufrecht betreten und es als gebrochene Menschen wieder verlassen hatten. Er hatte die Macht gehabt, die Gläubigen zu erheben oder zu stürzen. Ein Auserwählter. Ein Heiliger auf Erden.
    Diese vielen Seiten an ihm! Die grundverschiedenen Gesichter! Kaum glaubte man, ihn zu kennen, da riss er sich die Maske ab und legte eine neue an.
    »Er war ein Chamäleon. Keiner hat je sein wahres Gesicht gesehen.«
    »Nicht einmal du?«
    »Ich am wenigsten.«
    »Wie meinst du das?«
    Mina schaute Tilo in die Augen. Fragen. Antworten. Wie müde sie war!
    Aber sie konnte ihm nicht vorwerfen, unbarmherzig zu sein. Er wollte ihr helfen. Sie heilen. Er wollte, dass sie die Erinnerung wiederfand. Das war langwierig und bereitete Schmerzen. Das Erinnern an Ereignisse konnte genauso wehtun wie die Ereignisse selbst. Das wusste sie doch. Warum überraschte es sie immer wieder?
    »Weil er mich geliebt hat. Und gehasst.«
    In ihrem Kopf war plötzlich nur noch Leere. Sie rollte sich auf ihrem Bett zusammen. Tilo verstand sofort. Er breitete  die Decke, die am Fußende lag, über ihr aus, raffte seine Sachen zusammen und verließ leise das Zimmer.
    Schlafen. Vergessen. Und niemals mehr aufwachen.
     
    Jette stellte Tilo einen Cappuccino hin, den er gern annahm. Er hatte noch einen langen Tag vor sich. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich selbst auch einen machte, als er einen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte.
    »Hallo!« Merle warf ihre Tasche aufs Sofa, umarmte Jette, dann Tilo, schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich zu Tilo an den Tisch. Ihre Wangen glühten, sie sprühte vor

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