Der Scherbensammler
darin hatte sie inzwischen Routine. Es war das ganze Drumherum. Vor allem jedoch das Zusammentreffen mit Bert Melzig, ein Wiedersehen, das sie sich anders gewünscht hätte, nicht bei dieser Gelegenheit und vor laufenden Kameras.
Eine Talkshow zum Thema Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, an der außer dem Hauptkommissar und der Krimiautorin noch ein Schauspieler, ein Journalist, eine Psychologin, ein Mörder (der seine Strafe abgesessen hatte), ein Priester und die Eltern eines ermordeten Mädchens teilnehmen sollten.
Imke schätzte Talkshows nicht besonders. Erst recht dann nicht, wenn sie so platt polarisierten. Ein Mörder, ein Priester, ein Polizist, Allmächtiger! Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Moderatorin versuchen würde, die Emotionen hochzupeitschen, und allmählich wurde Imke ärgerlich. Hätte ihre Agentin ihr das nicht ersparen können?
Unschlüssig durchforstete sie ihren Kleiderschrank. Sie konnte sich nicht entscheiden und schlug die Türen gereizt wieder zu. Im Bademantel ging sie durch das Haus und begegnete in jedem Raum einer unglaublichen Stille.
Imke liebte diese Stille. Aber sie fürchtete sie auch. Manchmal füllte sie ihren ganzen Kopf aus, so vollständig, dass Imke Angst hatte, nicht mehr denken zu können.
Mit einem Kaffee setzte sie sich auf die Terrasse und spürte den lauen Wind im feuchten Haar. Plötzlich hatte sie Lust, für ein paar Tage wegzufahren. Irgendwohin, wo niemand sie finden würde. Wo es keine Fernsehauftritte und keine Talkshows gab. Nur sie und Tilo und jede Menge Zeit.
Tilo. Erst heute früh hatte sie ihn wieder am Tisch im Wintergarten gefunden, wo er über seinen Büchern und Aufzeichnungen eingeschlafen war. Er arbeitete viel zu viel. Sie fing an, sich ernsthaft Sorgen um ihn zu machen.
Es war das Mädchen, das ihn so beschäftigte, Mina, über die Imke gern mehr erfahren hätte. Hatte sie nicht das Recht, Tilo bei seiner Arbeit zu unterstützen? Brauchte nicht auch er jemanden, der ihm Sicherheit gab, wenn er an sich zweifelte? Er übertrieb maßlos mit seiner Schweigepflicht. Als hätte er Angst, Imke könnte durchs Dorf laufen und all seine Berufsgeheimnisse ausposaunen.
Nie ließ er Notizen liegen. Immer räumte er gründlich auf, nachdem er gearbeitet hatte. Als wollte er keine Spuren hinterlassen. Das war schon fast beleidigend.
Imke schloss die Augen. Sie sollte sich von solchen Überlegungen nicht deprimieren lassen. Sie sollte sich lieber ein bisschen vorbereiten auf ihren Auftritt am Abend. Eine Livesendung. Da kam es auf jedes Wort an. Da ließ sich im Nachhinein nichts korrigieren.
Gegen Lampenfieber half Ablenkung. Vielleicht war es das Beste, wenn sie sich noch eine Weile an den Computer setzte. Oder ein bisschen las. Sie konnte auch einige Telefongespräche führen.
Doch sie tat nichts dergleichen. Sie blieb auf der Terrasse, blinzelte in die Sonne und ließ es zu, dass Bert Melzig ihr im Kopf herumspukte. Die Gedanken an ihn riefen eine lange Reihe von Erinnerungen in ihr wach. Erinnerungen, die sie immer noch quälten.
Davon hatte ich schon gehört. Ich hatte sogar irgendwann einen Film darüber gesehen. Trotzdem fragte ich noch einmal nach.
»Sie leidet unter was?«
»Unter einer dissoziativen Identitätsstörung«, wiederholte Tilo geduldig. »Geläufiger ist wohl die Bezeichnung multiple Persönlichkeitsstörung.«
»Mina?« Merle starrte ungläubig von Tilo zu Mina und wieder zurück. »Mina ist eine Multiple?«
Ich ahnte, was in Merle vorging. Über solche Themen las man in der Zeitung. Das Fernsehen berichtete darüber. Man wusste, dass es solche Menschen gab. Aber man begegnete ihnen nicht im normalen Alltag.
Schlagartig fügte sich alles zusammen. Minas Veränderungen. Die extremen Schwankungen in ihrem Verhalten. Ihre Erinnerungslücken.
Mina saß da wie unbeteiligt.
Sie schaute auf einen Punkt an der Wand. Ihr Gesicht war so schmal und so blass. Ich hätte sie gern in die Arme genommen, aber ihr Körper signalisierte Abwehr. Selbst Donna, die um ihren Stuhl strich, beschloss, besser nicht auf ihren Schoß zu springen.
»Das heißt doch, dass sie aus mehreren … Personen besteht?« Merle betrachtete Mina mit ängstlicher Faszination.
»Teile ihrer Persönlichkeit haben sich abgespalten und gewissermaßen selbstständig gemacht«, erklärte Tilo. »Sie haben sich sozusagen zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickelt. In der Fachsprache nennt man sie Alters.«
Wir lauschten den
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