Der Scherbensammler
niemandem begegnet, der sichtbar um diesen Mann getrauert hätte. An der Beisetzung hatten mehrere Hundert Trauergäste teilgenommen, doch Bert hatte keine Träne gesehen, nicht einmal bei der Frau des Toten.
Allerdings schien Marlene Kronmeyer unter Beruhigungsmitteln gestanden zu haben. Sie hatte Berts ausgestreckte Hand ergriffen und benommen durch ihn hindurchgeschaut. Ihre Lippen waren farblos und spröde gewesen, die Gesichtshaut fahl, ihre Augen rot gerändert. Wenn überhaupt, dann war sie die Einzige, die einen Verlust empfand.
Die Tochter der Kronmeyers war nicht aufgetaucht. Sie hatte offenbar sämtliche Spuren vermieden, als sie ihr Zuhause verließ. Bert hatte oft genug erlebt, wie leicht sich Menschen in Luft auflösten. Als hätte jemand einen großen Radiergummi genommen und im Nu ein Leben ausgelöscht. Viele jedoch kehrten irgendwann zurück.
Minas Verschwinden gab Bert Rätsel auf. Was auch immer sie von zu Hause vertrieben haben mochte, die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihres Vaters hätte doch eine Reaktion hervorrufen müssen.
Da war es wieder. Das Wort, das diesen Fall mehr als alles andere charakterisierte.
Gewalt.
Minas Kindheit war von Gewalt geprägt gewesen. Von physischer und psychischer Gewalt. Einer Gewalt, die anfangs hauptsächlich hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen verübt worden war. Später hatte die Gewalt auch außerhalb des Hauses Kronmeyer getobt. Mina war vor den Mitgliedern der Wahren Anbeter Gottes angeklagt, verurteilt und bestraft worden. Immer und immer wieder.
Bert konnte verstehen, dass das Mädchen aus diesem Leben ausgebrochen war. Er hätte sie gern in Ruhe gelassen, wo immer sie sich gerade befinden mochte. Doch er ermittelte in einem Mordfall und Minas Verschwinden hatte möglicherweise mit dem Tod ihres Vaters zu tun. Bert waren die Fälle nur zu vertraut, in denen jahrelanger, unerträglicher Druck in einer Kurzschlusshandlung explodierte.
Noch war er damit beschäftigt, die Indizien zu sammeln und zu ordnen. Aber wenn Mina sich nicht meldete oder er sie nicht auftrieb, würde er nach ihr fahnden lassen müssen.
Manchmal hatte Bert das Gefühl, auf der falschen Seite zu stehen. Manchmal war es ihm zutiefst zuwider, Teil des Polizeiapparats zu sein. Dann wurde ihm bewusst, welche Macht seinen Kollegen und ihm zur Verfügung stand. Und ihm wurde bang bei der Vorstellung, wie leicht man sie missbrauchen konnte.
Melde dich, Mädchen, dachte er. Räum alle Unklarheiten aus. Doch irgendwo in ihm nagte der Zweifel. Und wenn sie sich gerade deswegen versteckt hielt? Weil sie sich nicht entlasten konnte?
Oder ihr war etwas zugestoßen. Auch diese Möglichkeit musste in Betracht gezogen werden.
Das Telefon klingelte. Bert griff nach dem Hörer.
»Wir sollten noch ein paar Details abklären«, hörte er die übellaunige Stimme des Chefs. »Für Ihren Auftritt heute Abend.«
»Einen schönen guten Tag«, sagte Bert. Vielleicht war selbst einer wie der Chef für höfliche Umgangsformen noch nicht verloren, wenn man ihm nur oft genug vormachte, wie es ging.
Aber das Ohr des Chefs war für solche Feinheiten taub.
»Öffentlichkeit muss man nutzen, das sollten Sie allmählich wissen. Also. In einer halben Stunde in meinem Büro?«
Bert stimmte zähneknirschend zu. Der Chef war immer noch verschnupft, weil der Sender nicht ihn zu der Talkshow eingeladen hatte. Sie hatten ausdrücklich nach Bert verlangt. Das war so ungeheuerlich, dass der Chef es nicht auf sich sitzen lassen konnte. Wenn Bert schon seinen Auftritt im Fernsehen bekam, dann musste er wenigstens vorher noch ein bisschen zurechtgestutzt werden.
Dabei legte Bert auf öffentliche Auftritte überhaupt keinen Wert. Bei diesem allerdings sah es anders aus. Imke Thalheim würde auch dabei sein. Sein Herz schlug schneller, wenn er an sie dachte, und Bert horchte verwundert in sich hinein. Fing es wieder an? Hatte er das noch immer nicht überwunden?
Mina hörte Tilo aufmerksam zu. Wie sehr sie ihn doch um seinen Abstand beneidete. Er hatte sie schon in den verzweifeltsten Situationen erlebt, sie jedoch dabei immer nur von außen betrachtet. Konnte er wirklich verstehen, wie sie sich fühlte? Wie es in ihrem Innern aussah?
Er beschrieb die Welt ihrer Gedanken und Empfindungen besser, als Mina es jemals hätte tun können. Übersetzte das, was in Mina vor sich ging, auf eine verständliche Art und Weise. Aber würden Jette und Merle es auch begreifen können?
»Mina hat für das
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