Der Schimmer des Ledger Kale
irgendeinem Grund, vielleicht weil sie Zwillinge waren, taten sie das bereits, seit sie fünf waren. Jetzt, mit vierzehn, hatten sie eine Menge Übung. Und immer wenn wir uns begegneten, konnten sie sogar noch mehr üben – weil sie mir bei jeder Gelegenheit Knüppel zwischen die Beine warfen und eine diebische Freude daran hatten, mich zu demütigen. Ich war froh, dass die beiden Vegetarierinnen waren, denn sonst hätten sie mich womöglich bei lebendigem Leib verspeist. Aber wenn Marisol und Mesquite mitbekamen, dass ich gerade auf meinem Sitz festklebte, würde ich wahrscheinlich innerhalb von drei Sekunden auf den Kopf gestellt oder auf einen der Bäume gesetzt und konnte mich noch glücklich schätzen, wenn sie mir dabei nicht die Schuhe klauten oder die Hose runterzogen.
»Paaaapi! Komm, wir gehen zur Feier!«
»Bin sofort bei euch«, rief Autry seinen Töchtern zu und lächelte, als sie sich durch das bloße Anheben eines – oder zweier – Finger daranmachten, die Stühle zusammenzustapeln. Dann fragte er mich so leise, dass die Zwillinge es nicht hören konnten: »Soll ich dir beim Warten Gesellschaft leisten, Ledge?«
»Nein, danke«, antwortete ich durch zusammengebissene Zähne. Einen Babysitter konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. »Ich möchte einfach hier sitzen bleiben und die Aussicht genießen.«
Autry zwinkerte mir zu, und als er seinen Blick über die Ranch schweifen ließ, leuchtete Stolz in seinen Augen.
»Ganz schön beeindruckend, oder? Dieses Land gehört schon seit Generationen unserer Familie. Deine Mom und ich sind hierhergekommen, als wir noch klein waren, lange bevor die Ranch an mich überging.« Plötzlich verfinsterte sich seine Miene und er murmelte: »Ich hätte nie gedacht, dass ich derjenige sein würde, der das Ganze hier in den Sand setzt.« Autry umklammerte die Rückenlehne des vor ihm stehenden Stuhls so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Über unseren Köpfen stand plötzlich ein Schwarm Stechmücken wie eine von Fishs Gewitterwolken, als hätten Onkel Autrys düstere Gedanken das dunkle Gewimmel angelockt. Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, doch den Zwillingen wurde das Stühlestapeln allmählich langweilig.
»Paaapi!«, maulten sie wie aus einem Mund. Autry schüttelte sich und schaute zu den Mücken hinauf, als wäre er überrascht, sie zu sehen. Er verscheuchte die Insekten mit einer schnellen Handbewegung, erhob sich und ging zu seinen Töchtern.
»Genieß die schöne Aussicht, Ledge«, rief er zurück. »Und komm zu uns in die Scheue, wann immer du … Lust hast.«
Lust hätte ich jetzt schon , dachte ich, während ich die abblätternde Rinde der Birken und die langsam verwelkenden Blumen vor mir betrachtete und feststellte, dass Oma Dollops Erdnussbutterglas noch auf einem der gewundenen Wacholderstümpfe stand. Das Glas war einfach zurückgelassen worden. Genau wie ich.
Während des Gesprächs mit Onkel Autry hatte ich vorübergehend meine Angst vergessen, die neugierige Sarah Jane könnte sich irgendwo in der Nähe verstecken und alles mitschreiben. Doch als ich hinter mir einen Zweig knacken hörte, kehrten meine Sorgen zurück.
»Wer ist da?«, rief ich.
Ich hielt den Atem an und lauschte. Da ich nichts anderes anschauen konnte als die Stümpfe, die Birken und Oma Dollops Glas, stellte ich mir vor, dass eine Horrorspinne von der Größe eines VW Käfer hinter mir über die Stühle kletterte – oder schlimmer noch, die Zwillinge zurück auf die Lichtung gekommen waren, um mich zu schikanieren.
»Das war ja eine ganz schön eigenartige Hochzeit.« Sarah Janes Stimme hallte laut in meinen Ohren wider. Wenn ich vor Schreck hätte hochfahren können, hätte ich es getan.
»Ich wusste es! Ich wusste, dass du nicht abhauen würdest!«, blaffte ich sie an. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung. Du hast es versprochen!«
»Hab’s mir anders überlegt.« Sie zuckte die Achseln und trat in mein Blickfeld. »Die Schokoriegel, die du mir gegeben hast, waren total geschmolzen.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Also hab ich beschlossen zurückzukommen, um mir noch was anderes zu holen.« Ich sah zu, wie Sarah Jane ihren Rucksack – meinen Rucksack – fallen ließ und nach vorn zum improvisierten Traualtar spazierte.
»Kommst du aus einer Artistenfamilie oder so was?« Sarah Jane sah nach oben und unten und ringsherum, als suchte sie eine Hebebühne oder Drähte, die Mellie vom Boden hochgehoben hatten. »Die Geschichte
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