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Der Schimmer des Ledger Kale

Der Schimmer des Ledger Kale

Titel: Der Schimmer des Ledger Kale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Law
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Hochzeitszeremonie abzusetzen, war sie fuchsteufelswild geworden. Meine Eltern stahlen sich schnell vor Großtante Jules davon und nahmen wohl an, dass ich direkt hinter ihnen war, als sie mit den anderen zur Scheune hinuntergingen. Aber ich war noch immer auf meinem Stuhl festgenagelt.
    Ich konnte nirgendshin.
    Und anders als mein Cousin Rocket, der jetzt schon acht Jahre hier auf der Ranch lebte, wollte ich nur noch eins: nach Hause.

5
    »Erst nagelt sie dich fest und dann vergisst sie, dass du nicht wegkannst, stimmt’s?«, sagte eine Männerstimme außerhalb meines Blickfeldes. Ich machte ein finsteres Gesicht, doch der Mann kicherte leise und kam näher. Als Onkel Autry sich neben mich setzte und den Arm auf eine Stuhllehne vor uns legte, damit ich ihn besser sehen konnte, entspannte ich mich.
    »Woher weißt du das?«, murmelte ich und spürte, wie ich rot anlief.
    »Da musste ich gar nicht lange rätseln, Ledge«, fuhr mein Onkel fort. »Dinah ist schon länger meine Schwester, als sie deine Mutter ist. Und früher hat sie dasselbe wer weiß wie oft mit mir gemacht. Als deine Mom ihren Schimmer neu hatte, war ich die halbe vierte Klasse lang festgeklebt wie eine Ameise in Harz.« Autry O’Connell war jünger als seine beiden Schwestern, meine Mutter und meine Tante Jenny Beaumont, doch nach all den Jahren in Wyomings Wind und Wetter war sein Gesicht zerfurcht, und sein blondes Haar war inzwischen von weißen Strähnen durchzogen. Heute fiel Onkel Autry besonders dadurch auf, dass er statt einer Seidenkrawatte, wie die anderen Männer eine trugen, eine Cowboykrawatte umgebunden hatte: ein dünnes Band aus geflochtenem Leder mit metallenen Spitzen. Daran steckte eine Brosche, die aussah wie ein riesiger grüner Käfer … mit den Beinen wackelte wie ein riesiger grüner Käfer … und tatsächlich ein riesiger grüner Käfer war .
    Wenn das Fliegende Ochsenauge keine normale Ranch war, war Onkel Autry auch kein normaler Ranchbesitzer. Auf Autrys Land gab es weder Kühe noch Schafe oder Pferde. Autry O’Connell war ein Insekten-Cowboy. Früher war er mal von Ost nach West und von Nord nach Süd als der Mann bekannt gewesen, den man rufen musste, wenn man richtig große Probleme mit Insekten hatte – oder richtig große Insekten –, denn sein Schimmer gab ihm Macht über alle Arten von grässlichen Krabbeltieren. Heutzutage arbeitete er jedoch überwiegend zu Hause und übernahm eher kleine Jobs: Er züchtete Marienkäfer, um sie an Gärtner zu verkaufen, oder half den Leuten in Sundance dabei, ihre Küchen von Ameisen frei zu halten.
    Ich erinnerte mich, wie Mom letztes Jahr über eine Weihnachtskarte von der Ranch geseufzt hatte. Für unser Familienfoto hatten wir uns alle in den gleichen roten Pullis aufgestellt und in die Kamera gelächelt. Auf der Karte der O’Connells dagegen war ein Bild von der dreibeinigen Bitsy, die zu einer riesigen Vogelspinne mit rosa Zehen auf ihrem Kopf hochschaute. Die Spinne trug eine rote Zipfelmütze und winkte mit einem außergewöhnlichen neunten Bein in die Kamera.
    »Dein Bruder hätte seine Ranch auf den Namen ›Außenseiter-Ranch‹ taufen sollen, anstatt sie nach einem Schmetterling zu benennen«, hatte Dad gesagt, nachdem er über Moms Schulter einen Blick auf das Foto geworfen hatte.
    »Tom!«, hatte Mom ihn scherzhaft ermahnt, aber dann erneut geseufzt. »Warum hat Autry uns denn kein Foto von den Zwillingen geschickt?«
    »Mir ist die Spinne lieber«, schaltete ich mich ein und grinste frech. Schon mein ganzes Leben lang hatte Mom meine Klagen über Marisol und Mesquite mit dem immer gleichen Vortrag beantwortet, zu dem sie auch jetzt prompt wieder ansetzte: »Die Mädchen haben bei der Geburt ihre Mutter verloren, Ledger. Autry hat sein Bestes getan, um sie allein großzuziehen, aber …«
    »Aber seine Mädchen sind eben Wildfänge«, hatte Dad den Satz für sie beendet.
    »Papi? Kommst du?«, drangen die Stimmen zweier Mädchen im Teenageralter über die fast leere Lichtung. Ich hielt den Atem an und wünschte mir, Moms Schimmer würde genauso schnell nachlassen wie vorhin im Auto. Die Zwillinge waren die Letzten, die ich als Zeugen meiner misslichen Lage gebrauchen konnte.
    Mesquite und Marisol waren wie die beiden Drehknöpfe einer Zaubertafel – Marisol war für die Auf- und Abwärtsbewegungen zuständig und Mesquite für die Seitwärtsbewegungen. Zusammen konnten sie Dinge hochheben und vom Fleck bewegen, ohne einen Finger zu krümmen. Und aus

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