Der Schimmer des Ledger Kale
Die Sportreportage mit Bobby Thomsons historischem Homerun gegen die Brooklyn Dodgers hörten Dad und ich uns gleich zweimal hintereinander an. Sie roch zwar nach Sauerkohl, verursachte uns aber trotzdem eine Gänsehaut. Dad wollte das Glas gern behalten, aber Mom packte es trotzdem ein.
»Deine Tante Jenny meinte, wir sollten alle Gläser mitbringen.« Dad zuckte die Achseln und zwängte die Kiste ins Auto.
»Ich finde die Idee toll!« Mom zwängte noch ein paar Flaschen Gatorade in die Kühlbox. »Verlass dich drauf, Jenny weiß genau, was sie tut. Wenn Opa sämtliche Einmachgläser von Oma um sich hat, wird ihm das in seinen letzten Tagen bestimmt sehr viel Trost spenden.«
»Wie meinst du das: in seinen letzten Tagen? «, fragte Fedora und riss sich den Helm vom Kopf.
»Opa ist sehr schwach geworden, Liebes«, erklärte Mom und wischte meiner Schwester mit dem Daumen Marmelade aus den heruntergezogenen Mundwinkeln. »Seit Oma gestorben ist, wohnt Opa bei Tante Jenny und ihrer Familie. Aber er hat schon vor langer Zeit beschlossen, dass er auf der Ranch sein möchte, wenn er einschläft.«
»Wenn er einschläft? « Fe hatte die Augenbrauen zusammengezogen.
»Wenn er stirbt, Fedora«, hatte Mom behutsam erklärt.
Ich schluckte schwer, als ich dort auf der Waldwiese saß und mir klarmachte, welcher Tod mir bevorstand, wenn Mom erfuhr, dass mir Omas und Opas Hochzeitsglas abhanden gekommen war. Und nicht nur Mom. Alle würden sauer sein. Denn wie konnte ich die Familienregel – Mund zu halten! – befolgen, wenn ich eins der wenigen Schimmerobjekte aus der Hand gab, das so viel Lärm machte?
An meinem Ohr summte eine Stechmücke. Um mich herum leuchteten lauter Glühwürmchen, obwohl sie in Wyoming eigentlich selten sind. Schlecht gelaunt stand ich vom Boden auf, denn ich konnte wetten, dass Onkel Autry die Insekten geschickt hatte, damit sie nach mir sahen.
Im letzten Licht des Abendhimmels erspähte ich plötzlich Sarah Janes Notizblock. Ich hob ihn auf und stopfte ihn mir in die Tasche, damit von unserem ungebetenen Gast keine Spur zurückblieb. Dann trottete ich hinter Autrys Glühwürmchen her und achtete unterwegs sorgsam darauf, reichlich Abstand zum Insektenhaus zu halten. Wenn ich dort die Tür abriss und hunderttausend Insekten in die Freiheit entließ, würde das meinen lausigen Tag noch hunderttausend Mal schlimmer machen. Es war schon blöd genug, dass mein Reißverschluss auf der Hälfte der Strecke in winzige Puzzleteile zerfiel und mir die gute Sonntagshose bis zu den Knöcheln rutschte.
Mit dreckstarrendem Hemd und um die Hüfte gebundener Krawatte, damit die Hose oben blieb, stand ich schließlich vor dem offenen Scheunentor und schaute hinein. Von den Dachsparren hingen Luftschlangen wie dicke, regenbogenfarbene Spinnweben. In der Mitte gab es eine Tanzfläche, den restlichen Platz nahmen Klappstühle und Tische in Anspruch. Trotz der kühlen Abendluft war ich schweißgebadet. Ich war wütend, aber es stimmte noch etwas anderes nicht. Meine Haut juckte wie verrückt. In meinem Kopf arbeitete ein Presslufthammer. Und mir drohte sich der Magen umzudrehen.
Gypsy tanzte in der Nähe der Frischvermählten, und ihr übermütiges Jauchzen raubte mir den letzten Nerv. Ihr dabei zuzusehen, wie sie sich in einem Ein-Personen-Jitterbug drehte und herumwirbelte, verschlimmerte meine Übelkeit nur noch. Erst als sie etwas sagte und die Leere vor sich anlachte, begriff ich, dass sie mit dem unsichtbaren Samson tanzte.
Zum allerersten Mal beneidete ich Samson Beaumont. Wenn ich unsichtbar wäre, würde Mom nicht mitkriegen, dass meine Klamotten ruiniert waren, weil ich mit einem Hechtsprung über den Boden gerutscht war. Und ich wäre auch nicht Ledge, der doch nicht schneller als der Schall lief, oder Ledge, der immer alles perfekt machen musste. Dann wäre ich, was auch immer ich selbst sein wollte, weil mich ja niemand sähe.
Die Leute redeten und lachten über die Musik hinweg, die aus dem hinteren Teil der Scheune drang; dort beanspruchten Oma Dollops Radiogläser zwei ganze Tische. Sie waren zu so hohen Türmen aufgeschichtet, dass sie sogar die dreistöckige Hochzeitstorte überragten. Marisol und Mesquite hatten schon angefangen, den Kuchen in Stücke zu schneiden, und riefen jedes Mal: »Achtung, frische Lieferung!«, wenn sie einen neuen Teller durch den Raum schweben ließen. Jeder einzelne von ihnen tanzte so lange vor einem der Gäste in der Luft, bis er oder sie ihn lachend annahm
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