Der schlafende Engel
nachdenken oder sich wünschen, alles wäre anders, am Ende jedoch zählte nur, dass man handelte.
Im Grunde war es ganz einfach: Menschen, die aus voller Überzeugung an etwas glaubten, selbst wenn es bloß ein diffuses Ideal war, waren bereit, jedes erforderliche Opfer dafür zu bringen. Sie dachte an Charles Tame – ja, er war übertrieben ehrgeizig, doch sie war davon überzeugt, dass er den Vampiren all die Lügen abkaufte, die sie ihm auftischten. Und die anderen? Sie glaubten nur an die Macht und an das Geld, aber vielen Menschen genügte das vollauf. Etwas ganz Ähnliches hatte Luke über ihren Großvater gesagt: Er suche die Nähe zu Geschäftsleuten und Politikern, weil er mit ihrer Hilfe eine Menge Geld verdiente. So lief es nun einmal im Leben, auch wenn man diese Typen in Wahrheit nicht leiden konnte. Im Grunde befand sich April in einer ganz ähnlichen Situation mit Davina. Auch sie brauchte jede Unterstützung, die sie kriegen konnte.
»Okay«, sagte sie leise, zog ihr Handy erneut heraus und scrollte zu einer Nummer.
»Caro?«, sagte sie. »Ich brauche dich.«
Als sie aufgelegt hatte, verließ sie den Friedhof und ging in den Waterlow Park. Es war höchste Zeit, sich nicht länger verrückt zu machen, sagte sie sich, als sie den Hügel hinaufging. Karl hatte völlig recht: Die Zeit des Handelns war gekommen. Doch ohne Truppen konnte man keinen Krieg führen, deshalb würden sich Davina und Caro mächtig ins Zeug legen müssen. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie den Mann im Schatten der überhängenden Bäume erst bemerkte, als sie praktisch vor ihm stand.
»Gabriel!«, rief sie und rannte auf ihn zu. Sie sprang hoch, schlang die Arme um ihn, drückte ihn an sich, roch ihn, spürte seine Wärme. Er war hier. Und er lebte!
»Ich hatte solche Angst um dich, weil ich dachte, du wärst allein losgezogen, um den König zu töten.«
»Nein, Baby, noch nicht«, sagte er und küsste ihren Hals. April legte den Kopf in den Nacken und gab sich dem herrlichen Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut hin, ehe sie in ansah.
» Noch nicht ?« Sie löste sich von ihm und sah ihn an.
Er lächelte müde. »Es steht auf meiner To-do-Liste ganz oben.«
»Nein«, erklärte sie entschlossen. »Gabriel Swift, du wirst auf keinen Fall allein etwas unternehmen, und schon gar nicht versuchen, irgendwelche Vampire auszulöschen. Wenn du diesem verdammten Vampirvolk den Kampf ansagst, komme ich mit.«
Lachend zog er sie an sich und hob sie hoch.
»Genau deswegen liebe ich dich, April Dunne«, sagte er grinsend. »Weil Angst für dich ein Fremdwort ist.«
»Tu’s nicht«, sagte sie eine Spur sanfter und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. »Bitte, okay? Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Und, mal ganz im Ernst, Gabe, du siehst nicht gesund aus.«
Es stimmte: Seine Augen waren blutunterlaufen und verquollen, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Sie betrachtete seine Hände, registrierte die Schmutzränder unter seinen Nägeln.
»Das stimmt«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Aber ich fühle mich gut. Es ist, als könnte ich das erste Mal seit Jahren wieder klar sehen.«
»Und was?«
April gefiel das Ganze nicht. Sein Lächeln war zu breit, und er wirkte irgendwie entrückt, als hätte er den Bezug zur Realität verloren.
»Wo warst du überhaupt? Wieso bist du einfach abgehauen?«
Während der letzten Tage hatte sie sich das Hirn zermartert und sich diese Frage unzählige Male gestellt, trotzdem hatte sie immer noch keine Ahnung, was ihn dazu gebracht hatte, ohne jede Vorwarnung davonzulaufen. Hatte er irgendetwas gesehen? Oder hatte es etwas mit seiner vampiristischen Fähigkeit zu tun, Dinge zu spüren, noch bevor sie passierten?
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Im einen Moment habe ich noch neben dir in der U-Bahn gesessen. Plötzlich war es, als wäre ich kurz weggetreten. Als ich wieder zu mir kam, stand ich auf der Straße, ohne zu wissen, wie ich dort hingekommen bin. Zuerst war ich in Spitalfields, dann auf einmal am Trafalgar Square. Ich hatte mein Handy in der Hand und habe auch alle deine SMS bekommen, aber ich … ich war nicht sicher, ob ich dich sehen kann, weil ich nicht wusste, was mit mir passiert.«
»Aber wieso, Gabe?«, fragte sie sanft, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Liegt es an den Träumen? An den Dingen, die du gesehen hast?«
Er nickte und blickte ins Leere, als versuche er, sich zu erinnern.
»Ich jage.« Seine Stimme war kaum
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