Der schlafende Engel
aufgepasst. Die Vorstellung von Jesus als Ninja, der den Ungläubigen in den Hintern trat, passte nicht so ganz in das Bild, das sie sich in der Sonntagsschule von ihm gemacht hatte. »Aber hat er nicht einen seiner Jünger ausgeschimpft, weil er einem römischen Wachmann ein Ohr abgeschnitten hatte?«
»Ja, das stimmt, aber nur, weil er gekreuzigt werden wollte.«
»Jesus wollte gekreuzigt werden?«
»Ich weiß, dass das ziemlich verrückt klingt, aber darauf beruht der gesamte christliche Glaube. Jesus hat sich verhaften und kreuzigen lassen, um so die Heuchelei der Römer und der Juden zu enthüllen. Er ist für unsere Sünden gestorben, aber auf gesellschaftlicher Ebene zeigt er jenen, die an ihn glauben, wie weit man manchmal gehen muss, um zu gewinnen.«
Sie blieben vor einer Kirche stehen, und Mr Gordon zeigte auf den geschnitzten Jesus an seinem Holzkreuz.
»Siehst du? Unsere Religion beruht auf dem Blut von Märtyrern – bestimmt weißt du, dass die Römer arme Christen in der Arena den Löwen zum Fraß vorgeworfen haben –, aber in den Köpfen der Leute besitzt der Tod mehr Macht als das Leben. Hätte Jesus nicht begriffen, welche Macht einer durch Taten untermauerten Idee innewohnt, wäre das Christentum vielleicht heute noch eine Hinterwäldlersekte.«
»Sie wollen damit also sagen, dass ich mich opfern muss?«
»Nein, ich sage nur, dass du dich entscheiden musst. Ich weiß, dass ich mich wie ein irrer Fundamentalistenprediger anhöre, aber Jesus hat lediglich eine Entscheidung getroffen, sonst nichts. Überall um ihn herum passierten den Menschen schlimme Dinge, also ist er aufgestanden und hat gesagt ›Halt, jetzt reicht’s‹. Er hat den Menschen Alternativen aufgezeigt und ein Zeichen gesetzt, dem sie nacheifern konnten, selbst wenn sie ihm nicht bis ans Kreuz folgen konnten.«
Plötzlich musste April wieder an Dr. Tame und seine Worte denken: dass sie als Schulsprecherin ein Zeichen setzen, Vorbild für andere sein sollte. Was, wenn sie ihre Vorbildfunktion in einer völlig anderen Art und Weise nutzte, als Dr. Tame vorgesehen hatte? Wenn sie ihre neue Stellung einsetzte, um jene neue Ideologie zu verändern, die er zu verbreiten versuchte? Sie wusste zwar noch nicht genau, wie sie das bewerkstelligen sollte, trotzdem erfüllte sie die Vorstellung mit neuer Energie. Inzwischen standen sie vor dem Zugang zum U-Bahnhof Archway.
»Ich muss hier entlang«, sagte sie. »Danke, dass Sie mir zugehört haben. Jetzt verstehe ich auch, weshalb mein Vater sich Ihnen anvertraut hat.«
»Nun, William Dunne war ein sehr kluger Mann und Vater einer sehr klugen Tochter.« Mr Gordon drückte Aprils Hand. »Du wirst schon das Richtige tun, April, das weiß ich.«
April konnte nur hoffen, dass er recht hatte. Sehr sogar.
Elftes Kapitel
C aro amüsierte sich augenscheinlich prächtig.
»Was ist das hier? So eine Art Kriegsrat?«, fragte sie und stopfte sich eine Handvoll Chips in den Mund. Vermutlich wäre es ihr noch lieber gewesen, sie hätten sich in einem abgelegenen Bunker verbarrikadiert statt in Aprils Zimmer.
»Stimmt genau«, sagte April und sah zuerst zu Caro und Gabriel hinüber und dann zu Fiona, die via Laptop zugeschaltet war. »Es wird Zeit, dass wir zurückschlagen, deshalb sind wir hier. Wir müssen endlich den Kampf gegen die Blutsauger aufnehmen, statt immer bloß zu warten, bis sie angreifen. Das haben wir inzwischen oft genug erlebt.«
Nach ihrem Gespräch mit dem Pfarrer konnte April es kaum erwarten, endlich zu handeln, statt immer nur zu reden. Sie hatte Gabriel angerufen – ausnahmsweise war er mal sofort rangegangen – , ein Taxi zu Caro geschickt und Fee übers Internet angerufen. Sie musste ununterbrochen daran denken, was Mr Gordon gesagt hatte: Wenn Jesus bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen, warum sollten sie es dann nicht auch sein? Nicht dass sie sich anmaßen würde zu glauben, sie spiele in derselben Liga wie er – sie schaffte es ja noch nicht einmal, zwölf Jünger um sich zu scharen –, doch die Worte des Pfarrers darüber, eine Idee als Waffe zu benutzen, gefiel ihr.
April ließ den Blick über die betrübten Gesichter schweifen.
»Natürlich stehen wir auf deiner Seite«, sagte Fiona schließlich. »Das ist doch klar. Aber das Ganze ist so deprimierend. Die haben die schlauesten Köpfe ihrer Generation, unbegrenzte Mittel und wahrscheinlich die Hälfte der Regierung und der Polizei unter Kontrolle, ganz zu schweigen von den vielen Anhängern,
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