Der schlafende Engel
vor Schmerz aufschrie.
»Danke«, sagte sie. »Du bist der erste Mensch, der etwas Nettes über ihn sagt. Ausgerechnet diejenige, auf die er losgegangen ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kapiere immer noch nicht, wieso er das getan hat. Vielleicht hat Sheldon, dieser hinterhältige Mistkerl, ihn dazu überredet. Ben hat ja den Boden geküsst, auf dem er stand.«
April hatte sich immer gefragt, wie viel Davina über jene verhängnisvolle Nacht wusste – und nun schien der Zeitpunkt günstig zu sein, sie zu fragen.
»Glaubst du, Mr Sheldon steckte dahinter?«, fragte sie.
»Wieso nicht? Es war sein Haus, und wir wissen ja, dass er ein Problem mit Gabriel hatte.«
»Wirklich? Was hatte er denn gegen ihn?«
»Keine Ahnung. Er hat Gabe mit uns anderen in sein Büro zitiert und hat einen seiner berühmten Vorträge darüber gehalten, dass wir die neue Elite seien und so – dasselbe Geschwafel wie Dr. Tame –, aber kaum war Gabe weg, ist er über ihn hergezogen. Wir sollten uns vor ihm vorsehen, er sei ›keiner von uns‹ und all solche Dinge. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er genau mit diesem ›keiner von uns‹ gemeint hat; vielleicht jemanden, der nicht davor zurückschrecken würde, sein Haus anzuzünden.«
»Glaubst du, deshalb hat er Ben überredet, Gabe dorthin zu locken?«
Davina zuckte mit den Achseln. »Kann sein. Aber möglicherweise auch wegen deiner …« Sie unterbrach sich abrupt. »Tut mir leid, Süße, ich hätte das nicht sagen dürfen. Es geht mich nichts an.«
»Was denn? Wovon redest du?«
Aber April kannte die Antwort auf diese Frage nur allzu genau – trotzdem verspürte sie das perverse Bedürfnis, es aus dem Mund von jemand anderem zu hören.
»Du meinst, wegen meiner Mutter und dem Falken?«
Davina blies die Backen auf und ließ die Luft langsam entweichen.
»Ich war nicht sicher, ob du Bescheid weißt«, sagte sie, »und wollte lieber nicht die Überbringerin von Hiobsbotschaften sein. Nicht nach allem, was du durchgemacht hast.«
Hiobsbotschaften . Aus ihrem Mund klang Silvias Affäre, als wäre man von einem Gewitter überrascht worden oder hätte vergessen, die Hausaufgaben zu machen. Aber April war bewusst, dass sie noch mehr aus Davina herausquetschen konnte.
»Genau das dachte ich nämlich«, sagte sie. »Als Ben mich zu Sheldon gelockt hat, dachte ich, es hätte etwas mit ihrer Affäre zu tun. Vielleicht dachte er, Gabriel würde es mir verraten.«
»Ich glaube nicht, dass außer ihnen jemand davon gewusst hat.« Ein Anflug von Arroganz schwang in Davinas Stimme mit. »Ich habe sie zufällig zusammen gesehen, aber ich schwöre, dass ich keinem ein Sterbenswörtchen verraten habe.«
Das bezweifelte April. Davina war schon immer die perfekte Politikerin gewesen, jemand, für den der Spruch »Wissen ist Macht« das Credo ihres Lebens war. Sie würde niemals ein so pikantes Geheimnis für sich behalten; nicht, wenn sie es gewinnbringend für ihre Zwecke einsetzen konnte.
»Wo denn?«, hakte April nach. Ihr war hundeelend, aber sie musste es wissen.
»Beim Winterball. Erinnerst du dich? Letztes Jahr zu Weihnachten bei uns zu Hause?«
Davina sprach von jenem Abend, als ein irrer Vampir April quer über das Grundstück der Osbournes gejagt hatte. Von jenem Abend, als Gabriels heldenhafter Kuss sie gerettet hatte. Nein, diesen Abend würde sie niemals vergessen.
»Eigentlich habe ich Benjamin gesucht«, fuhr Davina fort. »Wie üblich war er verschwunden, wenn man ihn am dringendsten braucht. Ich dachte, er hätte sich mit irgendeinem albernen Ding in eine dunkle Ecke verzogen, also bin ich über die Terrasse ums Haus gegangen. Und da habe ich sie gesehen, deine Mutter und Mr Sheldon.«
April dachte an jenen Abend zurück: Silvia hatte bildschön ausgesehen in ihrem Kleid aus fließender Seide und dem herrlichen Schmuck um ihren schlanken Hals. Sie hatte im Gedenken an William Dunne einen Toast ausgebracht, und April erinnerte sich noch genau an die Tränen in ihren Augen, als sie daran dachte, wie sehr ihr verstorbener Mann den Ball genossen hätte. Und dann hatte sie sich verdrückt, Robert Sheldon gesucht und …
»Haben sie … sich geküsst?«, fragte April.
Ein hinterhältiges Lächeln breitete sich auf Davinas Zügen aus.
»Es sah so aus, als wären sie … na ja, gerade dabei.«
Oh Gott, oh Gott, oh Gott . April sog scharf den Atem ein, im sicheren Glauben, dass ihr gleich übel werden würde. Komm schon, April , reiß dich zusammen.
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