Der schlafende Engel
der Bässe mit Gelächter und ausgelassenem Kreischen vermischte.
»Hey, wieso so trübselig?«
April fuhr herum und lächelte.
»Gabriel! Seit wann bist du schon hier?«
»Bin gerade gekommen«, antwortete er, setzte sich neben sie und drückte ihr einen Kuss auf die Schulter. »Aber es sieht ganz so aus, als wäre ich hier falsch. Ich dachte, das ist eine Party, keine Totenwache.«
»Tut mir leid, Schatz, aber ich hatte gerade eine Auseinandersetzung mit Simon. Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber …«
»Der Idiot ist schon komplett hinüber«, warf Caro ein und sah zur Bar.
»Verstehe«, meinte Gabriel. »Ein Grund mehr, am Ball zu bleiben, oder? Wenn wir den König aufstöbern und töten, haben wir gute Chancen …«
»Wir sind hier nicht im Märchenland, wo die böse Hexe am Ende getötet wird«, blaffte Caro. »Es wird kein Bann gebrochen, alle wachen auf und leben glücklich zusammen bis ans Ende ihrer Tage. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, was passieren wird, selbst wenn wir den Vampirkönig finden und ihm den Kopf abschlagen. Selbst wenn du sein Blut trinkst, wissen wir immer noch nicht, ob es dich heilen wird, oder?«
»Es ist doch nicht seine Schuld, Caro«, unterbrach April.
»Das weiß ich!«, rief sie und schüttelte den Kopf. »Entschuldige, Gabe, ich wollte dich nicht so anschreien.«
»Ist schon gut, außerdem hast du ja recht. Wir haben schließlich selbst miterlebt, was mit dem Regenten passiert ist. Sheldon ist bei dem Brand ums Leben gekommen, und trotzdem scheinen die Vampire eher noch an Stärke gewonnen zu haben. Ja, wir können den König töten, aber vielleicht wird es immer einen anderen Vampir geben, der nur darauf wartet, seinen Platz einzunehmen. Und für die Kids ist das hier« – er deutete um sich herum – »weiß Gott spannender, als im Jugendclub der Kirche Tischtennis zu spielen.«
»Es geht noch um etwas anderes«, sagte April. »Wir lachen über diesen Quatsch, den Dr. Tame verbreitet. Über dieses Gefasel von einer ganz neuen Welt, die sich uns eröffnet, aber für andere ist es bitterer Ernst. Sie wollen unbedingt Teil von etwas Neuem sein, von Anfang an. Dazuzugehören, vor allen anderen in das große Geheimnis eingeweiht sein, das finden sie spannend.«
Ernüchtert schwiegen sie.
»Also was sollen wir …«, Gabriel wurde vom Klirren splitternden Glases und lautem Gejohle unterbrochen. Kurz darauf ertönte erneutes Klirren und Gejohle.
»Ich werde nachsehen, was da los ist«, sagte April und stand auf. »Holt mir einer von euch noch ein Bier? Ein großes, bitte. Und wenn ihr an der Bar seid, könnt ihr Simon ins Gewissen reden.«
Sie ging in Richtung Haus, wo sich eine Traube gebildet hatte. Wieder zerbarst Glas auf dem Boden, was mit allgemeinem Johlen quittiert wurde. April schob sich durch die Menge. Zwei Jungs standen einander mit nacktem Oberkörper gegenüber. Den einen kannte sie – es war dieser Calvin, den Dr. Tame auf der Toilette in Ravenwood erwischt, aber nicht bestraft hatte. Auf seinem Kopf balancierte er eine Bierflasche, während der zweite Junge mit einer Art Kindercricketschläger vor ihm stand. Sie sah zu, wie er ausholte und mit dem Schläger die Flasche zerschlug, sodass sich ein Regen aus Glasscherben auf Calvin ergoss. Wieder wurden Rufe laut.
»Was zum Teufel soll das?«, fragte April einen der Umstehenden, der das Szenario anscheinend voller Ehrfurcht und Bewunderung verfolgte.
»Calvin hat gewettet, dass der andere – ich glaube, er heißt Danny – es nicht schafft, still dazustehen, während er die Flasche zerschlägt. Jetzt wechseln sie sich ab. Irre, was?«
»Allerdings«, bestätigte April. »Komplett irre.«
Sie sah, dass Calvin aus mehreren Wunden auf Brust und Schultern blutete, es jedoch nicht einmal zu spüren schien. Stattdessen fuhr er sogar mit dem Finger durch ein Rinnsal und leckte ihn lachend ab. Sie fragte sich, ob die Jungs ebenfalls nur als schwarze Schemen auf Fotos erkennbar wären oder ob sie wie Simon lediglich dem bizarren Reiz des Szenarios erlegen waren. Als sie sich zum Gehen wandte, wurde ihr unvermittelt bewusst, dass die ausgelassene Zirkusatmosphäre der Mottoparty einer anderen, bedrohlicheren Stimmung gewichen war. Eine Art unbehagliche Anspannung schien in der Luft zu liegen. April wandte sich der Ecke zu, in der sie zuvor mit Simon gesprochen hatte, und bemerkte ein Grüppchen Gäste, die in einem engen Kreis beisammenstanden. Was taten sie da? Rauchten sie etwas? Sie
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