Der schlaue Pate
hysterisch: »Wo? Wo?« Er hatte zwei Kamera- und zwei Tonmänner im Gefolge.
Prinz rief ihm zu: »Kalinka!«
Der Redakteur machte mit dem zweiten Kamerateam kehrt und sprang in einen der hinter dem Gebäude stehenden hellblauen VW -Transporter des Hessischen Rundfunks, der sofort losraste; das erste Team baute sich neben Prinz auf.
Zu sehen war nichts, aber es gab noch drei Schüsse.
Dann hechtete Igor aus einem ebenerdigen Fenster und rannte geduckt durch den Garten, sprang über den Zaun, weiter durch die Bäume, genau auf sie zu, eine große Kanone in der Hand. Er trug nur eine Unterhose.
»Zurück«, zischte Prinz. »Deckung!«
Das Kamerateam ging hinter ein paar Büschen in Deckung. Prinz und Ollie zückten ihre kleinen Berettas und gingen in die Hocke.
Ein Lautsprecher meldete sich aus einem der Hubschrauber: »Stehen bleiben oder ich schieße!«
Drei Lichtkegel flammten auf und glitten über das Gehölz.
Igor hoffte wohl, durch die Äste über ihm kein gutes Ziel abzugeben, kümmerte sich nicht darum, sondern hechtete über den Zaun des Hessischen Rundfunks und rannte weiter, ohne jemanden zu bemerken.
Prinz stellte ihm ein Bein. Er flog lang hin, die Waffe schlitterte übers nasse Gras und wurde von Ollie aufgehoben. Die Lichtkegel aus den Helikoptern fassten Igor ein, der sofort aufsprang, aber Prinz und Ollie richteten ihre Waffen auf ihn, und außerdem wurde er gefilmt.
»Hallo, Igor«, sagte Prinz grinsend. »Nett, dich zu sehen. Irgendwie ahnte ich, dass du hier langkommen würdest, wenn du es aus dem Haus schaffen solltest.«
Igor starrte ihn wütend an.
Hinterher stellte sich heraus, dass sechs der Transporter nicht verschlossen waren und der Schlüssel steckte. Bei einer Knallerei wären in der Nähe losrasende Wagen des Senders tatsächlich eine ziemlich gute Tarnung gewesen.
Die Polizei hatte zwei Leichtverletzte zu beklagen.
9.
Am Montag vor Weihnachten waren Bilder aus der beschaulichen nordhessischen Provinz, wie man sie sonst nur aus den USA , Italien oder Russland kannte, nicht nur in deutschen Nachrichten und Sondersendungen rund um die Uhr gelaufen, sondern auch auf allen internationalen Kanälen. Fünfundzwanzig russische Gangster, einige leicht torkelnd, wurden nur in Unterwäsche, was ihre Tätowierungen sehen ließ, in Handschellen durch ein Spalier Polizisten aus dem Restaurant geführt und in wartende Kastenwagen verfrachtet. Boris Tews, als Einziger im Anzug, wurde ebenfalls in Handschellen von Kripobeamten mit einem zivilen Wagen weggefahren. Nur Prinz hatte diesmal darauf bestanden, nicht erwähnt zu werden. Der schlaue Pate würde bald erfahren, wem er diesen Totalausfall einer ganzen Region zu verdanken hatte: spätestens, wenn einer seiner Anwälte zu Igor gelassen wurde. Der Verzicht auf öffentlichen Triumph sollte ein erstes Rauchzeichen sein.
Der Chefredakteur der regionalen HNA kommentierte:
Tief erschüttert
HORST SEIDENFADEN über das organisierte Verbrechen in Nordhessen
In Sachen Schwerstkriminalität waren Kassel und die Region bisher auf der Landkarte des Verbrechens in Deutschland eher unbewohntes Terrain. Zumindest wenn es um die Dinge geht, die sichtbar und spürbar sind. Das hat sich an diesem Wochenende radikal geändert, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Bilder, die nach der wüsten Schießerei am Mulang sogar international durch die Medien gingen, machen einen sprach- und fassungslos.
Wohl über viele Jahre hat die Russenmafia hier ihr Unwesen getrieben, ohne dass die Behörden überhaupt etwas davon wussten. Und ihr legales Aushängeschild scheint einer der bekanntesten und erfolgreichsten Unternehmer der »dynamischsten Großstadt Deutschlands« gewesen zu sein, über den auch in dieser Zeitung positiv berichtet wurde: Wir haben sein Bild bei entsprechenden Anlässen beim Anstoßen nicht nur mit dem Oberbürgermeister oft abgedruckt.
Wenn man wieder zur Besinnung kommt, dann rauschen einem die Fragen durch den Kopf: Wie konnte es passieren, dass eine zahlenmäßig derart starke kriminelle Gruppe so lange unbehelligt ihr Unwesen treiben konnte? Wie gelang es den Verbrechern, ihre bürgerliche, glänzende Fassade so lange kratzerfrei zu wahren? Wieso können interne Datennetze der Sicherheitsbehörden offensichtlich problemlos geknackt werden?
Der Polizei ist ein harter Schlag gegen das organisierte Verbrechen in Nordhessen gelungen. Das ist gut so – und den beim Einsatz verletzten Beamten gelten unsere besten
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