Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Männerstimme an. Ich blickte auf. Ein etwa vierzigjähriger, relativ großer und gut gekleideter Herr stand vor mir.
»Darf ich mich vorstellen? Ich bin Monsieur Wodeck, der Leiter der Unterkunft«, sagte er und reichte mir die Hand. »Kann ich Sie ein paar Minuten allein sprechen?«
»Gerne, Monsieur. Können meine Kinder schon einmal essen gehen?«
»Natürlich, Madame. Die Kinder können in den Speisesaal gehen.«
Ich folgte dem eleganten Herrn und hoffte, dass er uns heute Abend nicht vor die Tür setzen möge. Doch seine Ruhe und Freundlichkeit schienen mir ein gutes Zeichen.
Er nahm einen Stift und ein Blatt zur Hand, dann blickte er mich fest an.
»Madame Rafik, ich bedauere den Vorfall von heute Morgen aufrichtig und möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Wir dulden es nicht, dass unsere Klienten derart aggressiv behandelt werden.«
Vor lauter Erleichterung musste ich erneut weinen. Noch einmal trat mir die Szene von heute Morgen vor Augen, noch einmal kamen all die Gefühle hoch, die der flehende Blick meines Sohnes bei mir geweckt hatte.
»Ich lasse nicht zu, dass Ihre Würde verletzt wird. Sie können diese Person anzeigen: Das ist Ihr gutes Recht, und ich werde Sie dabei unterstützen. Ich bin selbst ausländischer Herkunft und hätte eine solche Behandlung bei meiner Ankunft in Frankreich nicht widerstandslos hingenommen. Ich gestehe, dass ich Ihren Mut bewundere, Madame«, sagte er und reichte mir ein Papiertaschentuch.
»Vielen Dank, Monsieur! Ich werde niemanden anzeigen, denn im Moment geht es mir einzig und allein darum, hier die Nacht verbringen zu können. Wir werden warten, bis man uns eine andere Bleibe zuweist, und uns so diskret wie möglich verhalten. Menschen wie Sie, Monsieur Wodeck, bestärken uns auf unserem Weg. Nochmals vielen Dank!«
Er drückte mir die Hand und wünschte mir viel Glück.
Ich ging zu meiner Familie zurück. Norah schloss aus meinem Schweigen, dass für die kommende Nacht alles geklärtwar. Die Kinder waren todmüde und glücklich, dass sie zu Bett gehen konnten.
Wieder einmal überraschten sie mich. Wie konnten sie ertragen, was mich als erwachsene Frau an die Grenzen meiner Kraft brachte? Ich betrachtete sie, wie sie vertrauensvoll und friedlich schliefen, und dieser Anblick rührte mich.
Die Straße kann kein Ort für Kinder sein!
Als ich selbst im Bett lag, blickte ich durch das Dachfenster zu den Sternen empor. Ich ließ meine Gedanken schweifen und gelangte von den negativen Erinnerungen zu den wenigen Augenblicken des Glücks, die mir zuteil geworden waren. Diese Momente hatte ich größtenteils mit den Kindern verlebt. Seltene Augenblicke, die dafür umso kostbarer waren. Sie überstrahlten all mein Leid.
Ich sprach meinen Töchtern Mut zu und erklärte ihnen, dass wir viel aus diesen schwierigen Erfahrungen lernen konnten. Wie gut würden wir später jedes kleine Glück zu schätzen wissen! Da wir den Zwängen des Fundamentalismus in Algerien entkommen waren, kehrte mein Optimismus zurück. Ich war voller Hoffnung, und das vermittelte ich auch meinen Töchtern. Beglückt schlief ich ein.
Wie immer weckte uns Rachid. Das Aufstehen war jeden Morgen eine Qual, denn wir hatten seit Tagen zu wenig Schlaf gehabt.
Eine Katzenwäsche, ein schnelles Frühstück, und schon packten wir unsere Koffer, um für einen möglichen Umzug bereit zu sein.
Dann bat mich Monsieur Wodeck in sein Büro: Ich sollte meine Sozialarbeiterin anrufen.
14. Irrwege durch Paris
Das französische Abenteuer ging weiter: Die Sozialarbeiterin beschrieb mir den Weg zu unserer neuen Bleibe.
»Guten Morgen, Madame Rafik. Es ist mir gelungen, ein Hotel ausfindig zu machen, das Ihre ganze Familie aufnimmt. Es liegt im Stadtzentrum. Heute Mittag können Sie umziehen.«
Sollte das eine gute Neuigkeit sein? Ich war skeptisch, aber da das Sozialamt für die Kosten aufkam, bis wir eine Wohnung gefunden hatten, wollte ich mich auf einen neuen Versuch einlassen. Außerdem blieb mir kaum eine andere Wahl!
Beim Wort Hotel begann Ryan zu weinen und protestierte:
»Ich will nicht in das Hotel Kacke gehen. Ich will hierbleiben!«
»Wir gehen nicht in das Hotel Kacke , sondern in ein Hotel, wo wir zwei Zimmer nebeneinander haben. Stellt euch nur vor, was für ein Glück wir haben! Jedes Zimmer hat einen eigenen Fernseher und ein eigenes Bad.«
»Warum können wir nicht in ein Haus ziehen, das uns ganz allein gehört? Ich will nach Hause zurück, zu Papa.«
»Ich weiß, mein Liebling. Wir
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