Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
haben es alle satt, immer wieder umziehen zu müssen. Aber ich verspreche dir, dass wir bald ein Zuhause haben werden.«
»Das sagst du ständig!«, brach es aus Melissa heraus, die nun die Partei ihres Bruders ergriff. »Und nichts passiert!Unsere Situation wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich bin sicher, dass wir aufgeben und nach Algerien zurückkehren müssen, weil wir es hier nicht schaffen. Wir werden unser Leben lang von einem Ort zum anderen fliehen!«
Damit sprang sie auf und verschwand in unser Zimmer.
Ich wusste nichts zu erwidern, denn Melissa hatte meine eigenen Befürchtungen ausgesprochen. Ich blickte auf Norah, die mir wie so oft mit gutem Rat zur Seite stand.
»Hör auf, weiter zu grübeln, Mama. Du hast getan, was in deiner Macht stand, und im Moment kannst du nichts unternehmen. Melissa soll sich erst einmal beruhigen. Lasst uns unsere Sachen zusammenpacken und in das neue Hotel ziehen. Dort können wir zumindest den Tag über in den Zimmern bleiben!«
Beim Packen ließ ich unsere Erfahrungen in dem Obdachlosenheim noch einmal Revue passieren. Es war ein Ort der Gegensätze, an dem wir so außergewöhnliche Menschen wie Rachid oder Monsieur Wodeck, aber auch diese schreckliche Sozialarbeiterin kennengelernt hatten. In den Nächten hatten wir Frieden gefunden, die Tage hatten sich endlos lange hingezogen.
Ich war erleichtert, dass dieses Nomadenleben ein Ende hatte, das für eine Familie mit fünf Kindern eine Qual bedeutete!
Liebenswürdigerweise bezahlte uns Rachid das Taxi zum Hotel.
Ich wünschte mir nur noch eines: endlich eine Zeit der Ruhe zu verleben, die es meinen Kindern erlaubte, zu entspannen und morgens auszuschlafen. An Wunder glaubte ich nicht mehr. Ich nahm die Ereignisse, wie sie kamen.
Es war Mitte September, und die Ferien gingen zu Ende. Melissa musste schleunigst an einer Schule angemeldet werden, um nicht in Rückstand zu geraten.
Gleich bei unserer Ankunft im Hotel lernten wir den Eigentümer und seine Frau kennen, die uns offenbar vor allem aus finanziellen Gründen aufgenommen hatten. Sie stellten uns zwei Zimmer zur Verfügung, weil ihnen das Sozialamt zwölftausend Franc pro Monat zahlte. Es war verboten, in den Zimmern zu kochen; wir mussten außerhalb essen! Darüber gab es keine Diskussion!
Die beiden völlig gleich möblierten Zimmer waren winzig. Den größten Teil nahm jeweils ein Doppelbett ein. Daneben blieb gerade noch Platz für einen Schrank am Fußende des Bettes, einen Beistelltisch und einen Stuhl. Der Fernseher hing an der Wand gegenüber dem Bett. Neben der Tür befand sich eine winzige Nasszelle mit einer Dusche. Auf dem Boden lag in beiden Zimmern eine zusätzliche Matratze. Doch alles war von beispielhafter Sauberkeit, was uns über den mangelnden Platz hinwegtröstete.
Die Kleinen jubelten, wir Großen waren zurückhaltender. Wie sollten wir das Fläschchen von Zacharias warm machen?
Angesichts solcher organisatorischer Probleme empfahl uns die Putzfrau eine Initiative, die sich um ausländische Frauen in Notlagen kümmert. Ich wollte so bald wie möglich dort anrufen. Zunächst einmal hatte nun jeder einen Platz zum Schlafen, und alles war sauber und sicher. Endlich!
Als wir unsere Sachen verstaut hatten, gingen wir in das Schnellrestaurant an der Ecke.
Auch wenn nicht alles vollkommen war, legte ich mich zufrieden zur Ruhe: Nun hatten wir eine Adresse. Endlich konnten wir Post empfangen und uns Arbeit suchen. Die regelmäßigen Atemzüge meiner Lieben wiegten mich in den Schlaf.
Norah und ich fanden einen Teilzeitjob: Sie bediente in einem Restaurant, und ich konnte in einem Krankenhaus arbeiten.Unser Lohn reichte gerade aus, um die Mahlzeiten zu bezahlen, die wir außerhalb des Hotels einnehmen mussten.
Meine Arbeit im Krankenhaus war sehr anstrengend. Ich war verantwortlich für die Pflege alter Menschen, die körperlich und geistig schon recht hinfällig waren. Ich musste sie aus ihren Betten in Rollstühle heben, sie baden und ihnen beim Waschen behilflich sein. Es war eine körperlich harte Arbeit, die mir bei meiner zarten Konstitution sehr zusetzte, sodass ich mich oft zerschlagen fühlte.
Ich ließ mich nicht unterkriegen, denn ich hoffte, durch den Nachweis unserer Arbeit eine Wohnung beantragen zu können. Aber ich musste den Tatsachen ins Auge sehen.
Unsere Situation besaß für die französische Verwaltung keine besondere Dringlichkeit. Ich war eine alleinstehende Frau, die mit ihren fünf Kindern in einem Hotel
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