Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
erweichen lassen würde.
Aber mein Mutterinstinkt gewann die Oberhand. Nachdem ich zweimal geklopft hatte, betrat ich das Büro von Madame Tanguy. Ich flehte sie an:
»Kann nicht eine meiner Töchter mit dem kleinen kranken Jungen hierbleiben? Nur er und seine älteste Schwester? Das ist doch nicht zu viel verlangt! Bitte haben Sie Mitleid …«
»Nein, Madame. Ich kann keine Ausnahmen machen. Bitte verlassen Sie jetzt den Raum, ich muss ein wichtiges Telefongespräch führen.«
Ich hatte alles versucht! Also zog ich Ryan so warm wie möglich an und setzte ihn in den Buggy seines kleinen Bruders. Dann suchte ich mit meinen Kindern Zuflucht in derGesundheitsfürsorgestelle des Viertels. Die Mitarbeiter behandelten uns freundlich und mitfühlend. Es war ihnen unverständlich, dass uns in Frankreich keine bessere Hilfe zuteil wurde.
Um vier Uhr nachmittags begaben wir uns wieder einmal zu jenem berühmten McDonald’s, wo sich die Kinder in der Spielecke vergnügen konnten. Ich nahm Ryan auf den Arm, gab ihm seine Medikamente, streichelte und tröstete ihn sanft.
Ich spürte, wie Norah und Melissa mich ansahen, aber nichts zu sagen wagten. Ahnten sie, was ich dachte?
Ich hatte meine Kinder der Hölle entreißen wollen, und nun hatte ich sie ins Fegefeuer geführt!
Ich haderte mit mir selbst! Ich fühlte mich für alles Unglück verantwortlich, das uns widerfuhr. Ich konnte nicht länger so tun, als wäre alles in Ordnung!
Vor meinen Töchtern brach ich in Tränen aus.
»Mama, wein doch nicht, bitte!«, tröstete mich Norah sofort. »Du hast alles getan, was in deiner Macht stand. Dir haben wir es zu verdanken, dass wir nicht mehr in dem Land leben, wo wir uns wie Gefangene fühlten. Dir haben wir es zu verdanken, dass wir frei und viel stärker als zuvor sind! Du sollst wissen, dass wir dir sehr dankbar für alles sind! Niemand konnte voraussehen, dass wir hier in solche Schwierigkeiten geraten würden! Unsere momentane Lage ist doch kein wirkliches Problem. Es wird sich alles klären, und irgendwann werden wir ein richtiges Zuhause haben.«
Diese Worte gaben mir neue Zuversicht, sodass ich wieder Mut fasste, unseren Weg fortzusetzen.
Wir konnten es nicht erwarten, um acht Uhr abends in unsere Unterkunft zurückzukehren. Ryan war erschöpft, und die anderen waren zu dieser späten Stunde schon völlig ausgehungert. Die Mahlzeiten waren keine feine Küche, aber reichlich und nahrhaft. Abwechselnd gab es Nudeln mit Sauce,weiße Bohnen, Linsen und anderes Gemüse. Wenn ich an die heiße Suppe zurückdenke, die wir als Vorspeise bekamen, läuft mir noch heute das Wasser im Mund zusammen.
Jeden Abend dankten wir Gott für die Speisen und das Dach, das er uns gewährte.
Diese Zeit im Obdachlosenheim lehrte meine Kinder, alles zu essen, was auf den Tisch kam, und sich jede abfällige Bemerkung zu sparen.
Wir setzten uns an unseren üblichen Tisch. Ryan schluckte mühsam ein paar Bissen hinunter. Dann gingen wir erschöpft auf unser Zimmer.
Am nächsten Morgen weckte uns Rachid um die übliche Zeit. Noch heute bin ich überrascht darüber, wie leicht wir neue Regeln annahmen und uns daran gewöhnten. Vielleicht hilft ein solches starres Regelwerk sogar, sich an einem neuen Ort sicherer und auch heimischer zu fühlen.
Da Ryan noch immer stark hustete, wollte ich die Sozialarbeiterin erneut darum bitten, dass er im Haus bleiben dürfe. Vor lauter Angst bekam ich beim Frühstück keinen Bissen hinunter. Kaum hatte sie mich erblickt, verschwand sie in ihrem Büro.
Ich folgte ihr unverzüglich und klopfte. Kaum hatte ich das Büro betreten, wurde die Tür noch einmal zaghaft geöffnet, und Ryan kam leichenblass herein.
Er konnte sich nicht länger beherrschen und übergab sich.
Madame Tanguy war außer sich. Sie fuchtelte wild mit den Armen herum und schrie:
»Oh! Dieses Ferkel! Nicht nur dass wir euch hier ertragen müssen, jetzt spuckt ihr uns auch noch auf den neu gemachten Boden!«
Ich rief nach Norah, die sich um ihren Bruder kümmerte. Nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen; ich musste dieser gefühllosen Frau die Meinung sagen.
»Haben Sie Kinder, Madame?«
»Nein! Und ich will auch gar keine haben.«
»Das ist gut so! Jedes Kind, das Sie nicht als Mutter hat, kann sich glücklich schätzen. Sie verdienen es nicht, ein Kind zu haben!«, schleuderte ich ihr wutentbrannt entgegen.
Damit verließ ich den Raum, denn ich spürte, dass ich mich nicht mehr in der Gewalt hatte. Ich hätte sie in Stücke
Weitere Kostenlose Bücher