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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samia Shariff
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Vaters wecken können. Als das Flugzeug abhob, hielt ich mir die Ohren zu, um das Dröhnen der Motoren zu dämpfen.
    »Fliegst du zum ersten Mal?«, fragte mein Nachbar freundlich.
    »Nein, Monsieur«, antwortete ich verschüchtert.
    Ich erwähnte nicht, dass ich zum ersten Mal mit einem Unbekannten sprach. Womöglich würde er mich dann für anormal halten.
    »Reist du zum ersten Mal nach Frankreich?«, wollte er wissen.
    »Nein, Monsieur. Ich bin dort geboren und habe sieben Jahre in Frankreich gelebt. Jetzt kehre ich nach sieben Jahren Algerien dorthin zurück.«
    »Da bist du sicher sehr froh! Und was machst du in Algerien? Gehst du zur Schule?«
    Ich bezweifelte, dass ich ihm meine wahre Situation hätte begreiflich machen können. Er war Franzose und konnte bestimmt nicht verstehen, warum man ein junges Mädchen in meinem Alter von der Schule nahm.
    »Ich habe die Mittelstufe erfolgreich abgeschlossen«, antwortete ich ausweichend.
    »Bravo, ich mag Schüler, die gerne lernen! Ich bin Lehrer an einem Gymnasium. Deine Eltern sind sicher stolz auf dich. Haben sie dir diese Reise als Belohnung für deine guten Noten geschenkt? Das hätte ich an ihrer Stelle auch getan!«
    Dieses Gespräch rief bei mir Unbehagen hervor. Ich vermied es, über persönliche Dinge zu sprechen, indem ich die Unterhaltung in eine andere Richtung lenkte oder meinem Gegenüber Fragen stellte. Der Mann arbeitete seit fünf Jahrenals Lehrer in Algerien und liebte unser Land sehr. Viermal im Jahr flog er nach Frankreich, um seine Frau zu besuchen.
    Zwei Stunden später waren wir am Ziel. In Gesellschaft dieses netten Herrn war die Zeit rasch vergangen. »Meine Damen und Herren, legen Sie bitte Ihre Sicherheitsgurte an«, mahnte die Stewardess, »in wenigen Minuten werden wir auf dem Flughafen Orly-Süd landen.«
    Während des Landeanflugs spähte ich durch das Fenster nach draußen. Die Landschaft sah so anders aus als in Algerien und erinnerte mich an meine Kindheit, sodass mir ganz warm ums Herz wurde. Mein freundlicher Sitznachbar verabschiedete sich und wünschte mir noch viele schöne Studienjahre und ein erfolgreiches Berufsleben. Wenn er gewusst hätte, wie es in meinem Herzen aussah … Ich hatte nicht gewagt, mich einem Fremden anzuvertrauen. So dankte ich ihm lediglich für seine angenehme Gesellschaft und wünschte ihm ein schönes Wiedersehen mit seiner Frau.
    Die Leute, die im Flughafengebäude unterwegs waren, wirkten ganz anders als die Algerier: Sie schienen mir gelassener und heiterer. Wie angenehm musste es doch sein, hier zu leben!
    In der Ankunftshalle fand ich rasch meine Tante und ihren Mann, die bereits auf mich warteten. Sie stürzten auf mich zu.
    »Sieh doch nur, Liebling«, sagte meine Tante zu ihrem Mann, »was für ein schönes Mädchen sie geworden ist!«
    Dann wandte sie sich zu mir:
    »Deine Mama wird stolz auf dich sein, denn du wirst eine sehr hübsche Braut abgeben!«
    »Aber ich will doch gar nicht heiraten!«, rief ich entsetzt aus.
    Meine Tante lachte schallend, als hätte ich etwas außerordentlich Dummes gesagt.
    »Alle Mädchen heiraten irgendwann, mein Liebes. Was sollten sie auch sonst tun?«
    »Sie könnten arbeiten und Geld verdienen, sodass sie niemanden brauchen«, erwiderte ich überzeugt.
    »Wo hast du das denn her? Für die Tochter von Monsieur Shariff kommt das bestimmt nicht infrage, mein Liebes!«
    Nachdem wir mein Gepäck geholt hatten, fuhr mein Onkel uns nach Hause. Die riesigen Häuserfluchten entlang der Straßen faszinierten mich. Ich konnte es kaum erwarten, meine geliebte Amina wiederzusehen.
    »Wie geht es deinen Eltern?«, wollte meine Tante wissen.
    »Es geht allen sehr gut, Tante.«
    »Deine Mutter hatte mir gesagt, wie sehr du gewachsen bist, aber so groß habe ich dich mir nicht vorgestellt. Wie alt bist du jetzt?«
    »Ich werde bald fünfzehn.«
    »Wir werden deinen Geburtstag feiern, mein Liebes!«, versprach sie schmeichelnd. »Wenn du brav und folgsam bist und uns Ehre bereitest, werden wir dir ein schönes Geschenk kaufen!«
    Uns Ehre bereiten – was sollte das heißen? Hatte ich denn meinen Eltern nicht stets Ehre bereitet? Diese Worte weckten einen leisen Argwohn in mir. Wirre Fragen schossen mir durch den Kopf. Irgendetwas braute sich hier zusammen! Aber ich verscheuchte diese unerfreulichen Gedanken, um mir die Freude über meine Rückkehr nach Frankreich nicht zu verderben.
    Bei meiner Tante lernte ich meine beiden Cousins kennen. Sie hatten während meiner Kindheit

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