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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samia Shariff
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Mutter war da, und neben ihr stand eine Krankenschwester. Man teilte mir mit, dass die Nähte wieder aufgerissen waren und ich heftig geschlagen worden war – als ob ich das nicht gewusst hätte! Die Schwester versicherte mir, dass ich hier in guten Händen wäre.
    Dann erschien der Arzt und fragte meine Mutter, was geschehen sei. Meine Mutter sah sich nicht in der Lage, ihm zu antworten. Doch ich wusste nur zu gut, was geschehen war! Ich brach in Tränen aus. Noch schlimmer als meine körperlichen Schmerzen war die Bitterkeit darüber, dass meine Mutter mir nicht zu Hilfe geeilt war. Dabei hatte sie mit Sicherheit meine Schreie gehört.
    Der Arzt setzte sich neben mich auf die Bettkante.
    »Wie fühlen Sie sich jetzt? Können Sie mich deutlich sehen?«
    »Ja, aber ich habe Kopfschmerzen.«
    »Das ist normal. Morgen werden Sie sich besser fühlen. Möchten Sie ihn heute noch anzeigen, oder wollen Sie lieber bis morgen warten?«
    Hinter dem Rücken des Arztes sah ich, wie meine Mutter heftig den Kopf schüttelte. Sie redete nun arabisch mit mir.
    »Untersteh dich, ihn anzuzeigen! Treibe keinen Keil zwischen unsere beiden Familien! Wenn du das tust, bin ich nicht mehr deine Mutter, und du wirst nie wieder meine Tochter sein! Außerdem wird dein Sohn ohne Vater aufwachsen. Erfinde irgendetwas, aber sag ihnen nicht, wer dir das alles angetan hat.«
    Ihre Worte versetzten mir einen schrecklichen Schlag, der mich tiefer traf als die Misshandlungen meines Ehemannes.
    Alles, was für sie zählte, war die Familie! Die Ehre der Familie! Und ich hatte keine Bedeutung für sie, ich zählte nicht! Doch allmählich begriff ich, woran ich war.
    In ihrem Blick lag eine klare Aufforderung: Worauf wartest du noch? Tu, was ich dir gesagt habe!
    Um der Sache ein Ende zu bereiten, behauptete ich, ich wäre auf der Treppe gestürzt. Außerdem erklärte ich, dass ich niemanden anzeigen würde.
    »Sie wollen mir also erzählen, dass Ihre Blutergüsse von einem Sturz auf der Treppe stammen? Und Ihre zerrissene Vagina, die wir noch einmal nähen mussten? Das stammt wohl auch alles von dem Sturz! Wir wissen, wer Ihnen das alles angetan hat, aber ohne Ihre Mithilfe können wir nichts unternehmen! Sie müssen uns schon die Wahrheit sagen!«
    Hilfesuchend wandte er sich an meine Mutter, in der vergeblichen Hoffnung, sie würde mich umstimmen. Doch meine Mutter beteuerte, ich sei tatsächlich die Treppe hinuntergefallen und hätte anschließend das Bewusstsein verloren.
    »Mir ist klar, dass Sie Angst haben, Madame«, sagte er und sah mich ernst an. »Aber Sie müssen wissen, dass er Ihnen morgen noch etwas Schlimmeres antun kann. Und ich möchte Sie nicht noch einmal in einem ähnlichen oder noch schlimmeren Zustand sehen. Leider kommt das sehr häufig vor!«
    »Ich werde keine Anzeige erstatten, aber ich werde das nächste Mal besser aufpassen.«
    Darauf redete meine Mutter erneut arabisch auf mich ein, dieses Mal in einem unangenehm süßlichen Ton:
    »Danke, Samia, das hast du gut gemacht, meine Tochter! Ich werde jetzt Abdel anrufen und ihn bitten herzukommen. Er ist sicherlich sehr besorgt. Du weißt, dass die Geburt einesKindes große Veränderungen im Eheleben mit sich bringt, und oft wird der Mann dann sehr nervös! Doch das ist ganz normal! Alle Frauen müssen das durchstehen!«
    Als sie gegangen war, versuchte der Arzt noch einmal, mich umzustimmen, aber ich blieb bei meiner Entscheidung. Ich wollte nicht, dass meine Eltern mir böse waren.
    Damals schien mir ein Leben ohne meine Eltern unvorstellbar, denn ich war jung und naiv. Außerdem fürchtete ich mich vor meinem Vater. Ich wusste, dass ich auch hier in Frankreich vor seiner Gewalttätigkeit nicht sicher war.
    Der Arzt als Europäer und Nicht-Muslim konnte das nicht verstehen! Die Europäer sind der Meinung, dass niemand in Furcht vor einem anderen Menschen leben muss. Meine Familie vertrat da eine andere Ansicht.
    Unsere Traditionen und Gebräuche – das ist mir heute klar – sind sehr eigenartig. Die Frau in einer konservativen muslimischen Familie muss sich ihr ganzes Leben lang einem Mann unterwerfen: zuerst ihrem Vater, dann ihrem Ehemann. Sind beide abwesend, so untersteht sie der Autorität ihres Bruders, und falls es keinen Bruder gibt, muss sie ihrem Onkel gehorchen. Sie kann nichts selbstständig entscheiden, auch nicht in ihren eigenen Angelegenheiten. Da nach traditionellem muslimischem Verständnis das Denkvermögen der Frau dem des Mannes unterlegen ist, könnte

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