Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
erfüllte wie einst seine große Schwester. Nach dieser dritten Geburt wurde mein Ehemann noch bösartiger und brutaler. Er sprach mich nur noch mit Frau an, nicht mehr mit Samia.
»He, Frau, komm her! Los, Frau, tu das!«
Befehle, Strafpredigten und Gewalttätigkeiten prägten das Klima in unserem Haus. Liebe und Frieden gab es nur zwischen meinen Töchtern und mir. Ich träumte von dem Tag, an dem wir endlich alle drei unsere Freiheit fänden, fern von diesem brutalen Ehemann! Diese vage Hoffnung half mir, mein elendes und entmutigendes Leben zu ertragen.
Immer wieder hatte ich folgenden Traum: Ich befand mich mit meinen Töchtern in einem großen Haus, ohne Ehemann und ohne irgendein anderes Mitglied meiner Familie. Es wurde gelacht und getanzt, und keine von uns hatte Angst. Wenn ich dann aufwachte und erkannte, dass alles nur ein Traum gewesen war, weinte ich und wollte wieder einschlafen.
Mein Vater schickte uns Flugtickets für meine Töchter und mich. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, meine Familie wiederzusehen, und der Furcht vor dem, was dort geschehen konnte.
Mein ganzes Leben lang hatte ich für alles, was mir an Gutem zuteil wurde, büßen müssen. Jede gute Nachricht barg für mich zugleich eine schlechte. Mein Leben hatte mich dazu gebracht, dem Glück zu misstrauen! Doch in diesem Fall glaubte ich, dass der Einsatz sich lohnte, denn meine Reise würde mich zumindest von den unaufhörlichen Quälereien Abdels befreien. Außerdem würde ich meinen Sohn wiedersehen!
So sehnte ich den Tag der Abreise herbei. Gewissenhaft kam ich den Wünschen meines Ehemanns nach, damit er nicht auf den Gedanken kam, seine Erlaubnis rückgängig zu machen. Meine Mutter hatte mir oft genug eingetrichtert, dass eine Frau auf ihren Mann hören muss, wenn sie den Segen der Eltern erhalten möchte. Das war der Preis, den ich bezahlen musste, um ein kleines Stückchen Glück zu ergattern. Ich fühlte mich wie ein Kind, dem man eine schöne Überraschung verspricht, wenn es folgsam ist.
Endlich war der große Tag gekommen. Mein Ehemann erklärte, er werde es nicht hinnehmen, lange Zeit allein zu bleiben. Mehr als zwei Wochen billigte er mir nicht zu, jeder weitere Tag werde mich teuer zu stehen kommen. Ich versprach, mich nach seinen Anweisungen zu richten. Meine Eltern würden mich bestimmt nicht drängen, länger zu bleiben, da war ich sicher.
Nach zwei Flugstunden landete unsere Maschine auf dem Flughafen von Algier. Auf den ersten Blick erkannte ich, wie sehr sich das Land verändert hatte. Es gab nun viel mehr verschleierte Frauen, und sie kleideten sich jetzt wie die Iranerinnen mit einem dunklen Schleier, der das ganze Gesicht verbarg. Die Männer trugen die gleichen Gewänder wie die Afghanen: lange weiße oder dunkle Tuniken, darunter weite Hosen in der gleichen oder einer kontrastierenden Farbe. Eine kurzärmlige dunkle Jacke vervollständigte die Kleiderordnung des echten muslimischen Mannes! Die meisten trugen Bärte.
Was war in meinem Land seit meiner Abreise geschehen?
Mein Bruder wartete bereits auf mich, aber ich erkannte ihn kaum wieder in seiner algerischen Gewandung. Dabei hatte er sich doch früher stets nach der neuesten Mode gekleidet! An seiner Seite erblickte ich unseren Cousin, mit dem wir aufgewachsen waren. Ich freute mich sehr, auch ihn wiederzusehen, und reichte ihm die Hand. Doch er nahm sie nicht. Er war der Meinung, dass ein gläubiger Mann niemals die Hand einer Frau berühren durfte, denn sie stellte eine Versuchung des Teufels dar. Eine solche Geste würde ihn vom Weg Allahs abbringen.
»Aber du bist doch wie ein Bruder für mich! Das ist doch nichts, woran Gott Anstoß nehmen könnte!«
»Samia, du widersetzt dich dem Wort Allahs!«, tadelte mich mein Bruder empört. »Auch wenn du in Frankreichlebst, darfst du deinen Glauben nicht vergessen und musst den Regeln gehorchen, die einer guten Muslimin vorgeschrieben sind! Du wirst dich hier auch anders kleiden müssen, wenn du keinen Ärger mit unserem Vater haben willst.«
Ich konnte noch verstehen, dass mein Vater sich verändert hatte, aber bei meinem großen Bruder fiel es mir schwer, das zu akzeptieren. Früher war er für die Gleichberechtigung der Geschlechter gewesen und hatte sich gerne amüsiert. Wie war es möglich, dass er nun jeder Lebensfreude abschwor? Und mein Cousin, den ich seit meiner frühesten Kindheit kannte, wollte mir nun nicht einmal mehr die Hand reichen unter dem Vorwand, ich sei eine
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