Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Versuchung des Teufels. Meine Verblüffung kannte keine Grenzen!
Zu Hause angekommen, stürmte Norah die Treppe hinauf. Ich erinnerte mich, wie ich in ihrem Alter über diese Treppe gegangen war und mich bereits so unglücklich gefühlt hatte! Auch wenn ich heute mit Schwierigkeiten rechnen musste, war ich doch erwachsen und fühlte mich besser gewappnet, Leid zu ertragen, als das kleine einsame und wehrlose Mädchen von damals.
Meine Tochter warf sich in die Arme ihres großen Bruders. Sie schienen glücklich, einander endlich kennenzulernen. Dann kam Amir auf mich zu. Eine Scheu befiel mich angesichts dieses schönen Jungen mit den dunklen Haaren und der stolzen Haltung.
»Guten Tag, Samia«, begrüßte er mich.
Dass mein Sohn mich beim Vornamen nannte, kränkte mich.
»Nicht Samia , mein Liebling, sondern Mama !«
»Warum denn Mama ?«, mischte sich meine Mutter ein. » Mama nennt man diejenige, die sich Tag für Tag um ihr Kind kümmert, oder etwa nicht?«
»Guten Tag, Mama«, sagte ich hastig, um diesem Streit vor meinem Sohn ein Ende zu bereiten.
»Guten Tag, Tochter! Wie war deine Reise?«
»Die Mädchen waren sehr aufgeregt, denn sie sind es nicht gewohnt zu reisen.«
»Wie könnte es auch anders sein? Sie haben eben das Naturell ihrer Mutter«, erwiderte sie und versuchte, weiter Öl in die Flamme zu gießen. »Als Amir vor ein paar Monaten mit uns nach Italien gereist ist, war er den ganzen Flug über brav. Es stimmt einfach, dass die Jungen ruhiger und verständiger sind als die Mädchen.«
Ihre Einschätzung schien mir höchst abwegig, aber das war nicht der geeignete Augenblick, um eine Diskussion darüber zu beginnen. Vor allem da ich mich auf ihrem Hoheitsgebiet befand und so ohnehin den Kürzeren ziehen würde!
Nun erschien meine zwölf Jahre jüngere Schwester Amal, die ich kaum wiedererkannte. In ihren Augen lag bereits ein Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit.
Bei der Geburt meiner kleinen Schwester hatte ich meine Mutter gefragt, was ihr Vorname bedeutete.
»Er bedeutet › Hoffnung ‹ . Ich habe ihr diesen Namen in der Hoffnung gegeben, niemals wieder ein Mädchen zur Welt zu bringen.«
Diese Erklärung hatte mich sprachlos gemacht.
Liebevoll küsste ich meine Schwester, denn ich spürte, dass sie Zuneigung brauchen konnte. Ich wollte unbedingt mehr von ihrem Leben erfahren, und sie war sofort einverstanden, ihr Zimmer mit mir zu teilen.
Jetzt stand die Begrüßung meines Vaters an. Er war alt geworden, und sein Gesicht wirkte müder, als ich es in Erinnerung hatte.
»Guten Tag, Vater!«
»Guten Tag, Samia«, antwortete er knapp.
In der Hoffnung, dass er mir ein wenig Aufmerksamkeit schenken würde, setzte ich mich neben ihn. Wie immer sah er fern.
»Was willst du? Brauchst du Geld?«
»Ich brauche nichts, Vater. Ich würde gerne wissen, ob es dir gut geht.«
»Mach dir keine Sorgen wegen meiner Gesundheit. Je weiter dein Mann und du von hier entfernt leben, desto weniger höre ich von euch und desto besser geht es mir!«
Ich begriff, dass selbst die zaghafteste Annäherung unmöglich war. Als ich mich erhob, hielt er mich zurück:
»Ich hoffe, du hältst jeden Tag deine fünf Gebete ein und gehorchst deinem Ehemann.«
Die rituellen fünf Gebete gehören zu den fünf Säulen, auf denen sich das Leben eines Muslims gründet. Die vier weiteren sind das Glaubensbekenntnis, die Unterstützung der Bedürftigen, das Fasten während des Ramadan und einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Mekka.
Ich betete nicht, wagte jedoch nicht, ihm das einzugestehen.
»Als gute Ehefrau gehorche ich meinem Mann und tue alles, was er von mir verlangt.«
»Das ist gut. Da du nun hier in Algerien bist und unter meinem Dach wohnst, wirst du dich züchtig kleiden müssen. In Frankreich mische ich mich nicht ein, aber hier bin ich vor Gott für dich verantwortlich! Und deshalb wirst du dich verschleiern, wenn du ausgehst!«
Ich nickte gehorsam und ging rasch in die Küche, bevor er ein weiteres Mal mit den Gebeten anfing.
Es zerriss mir fast das Herz, als ich sah, wie Amir seine kleine Schwester streichelte! Ich setzte mich auf meinen früheren Platz an dem großen Tisch, und sofort wurden Erinnerungen wach.
Bedrückende Augenblicke hatte ich hier durchlebt, aber sie waren längst nicht so hart gewesen wie mein jetziges Leben mit meinem Ehemann. Fern von Abdel erschien mir das Dasein so friedlich und einfach. Zwar gaben mir meine Elterndas Gefühl, wertlos und verdorben zu sein, doch ich
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