Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
meiner Familie. Zum Glück halfen mir meine Töchter. Wenn ich gerade mit Ryan beschäftigt war und Elias gleichzeitig anfing zu schreien, eilten sie automatisch zu ihm. Dank ihrer tatkräftigen Unterstützung und dank meines Mannes fiel es mir leicht, mich um die beiden Neugeborenen zu kümmern. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Geburten erholte ich mich diesmal rasch. Zwar war ich immer noch in Algerien, doch in meinem Haus gab es keine Gewalt mehr!
Ich blieb die ganze Zeit daheim und fühlte mich wohl dabei.
Eines Tages erlebte ich eine freudige Überraschung: Meine jüngere Schwester Amal besuchte mich.
Meine Eltern wussten nichts davon und durften es auf keinen Fall erfahren, sonst würde sie es bereuen müssen! Sie vermisste uns sehr! Ihre Zuneigung rührte mich. Sie hatte von der Geburt der Zwillinge erfahren.
»Weiß Mama davon?«
»Ja. Ich habe es ihr selbst erzählt.«
»Wie hat sie reagiert? Sie muss doch glücklich sein: zwei Jungen auf einmal!«
»Da muss ich dich enttäuschen. Es sind für sie nicht ihre Enkel, sondern zwei Bastarde. Du kennst ja Mama.«
»Ja, ich kenne sie sehr gut. Ihre Meinung bedeutet mir wenig, und ich bin glücklich, dass meine Kinder nichts mit ihr zu tun haben. Meine Eltern haben mir so viel Leid angetan, dass ich nichts mehr von ihnen wissen will! Meine Töchter, die Zwillinge und Hussein sind jetzt meine Familie. Ich denke nur noch daran, wie ich dieses Land mit meiner Familie verlassen kann, um irgendwo in Frieden zu leben.«
»Ich liebe dich«, versicherte mir Amal beim Abschied mit Tränen in den Augen. »Pass auf dich auf!«
Dieser letzte Besuch meiner Schwester erschütterte mich sehr, da er in meinen Augen einen symbolischen Wert hatte. Im Brustton der Überzeugung hatte ich verkündet, dass ich mit meiner Familie gebrochen hatte. Und tatsächlich fühlte ich mich nun stark genug, die Konsequenzen zu tragen. Denn obwohl das Verhältnis meiner Familie zu mir stets kühl gewesen war, war es doch meine Familie gewesen.
Nun strebte ich eine feste, lebendige Bindung zu meinen Kindern an, und meine neue Familie war in meinen Augen das Allerwichtigste. Wir mussten gemeinsam unser Leben meistern. Ich war endlich erwachsen geworden!
Seit Monaten besuchte Norah die Schule nicht mehr und widmete ihre ganze Zeit den kleinen Brüdern. Sie war ihnen eine zweite Mutter geworden. Aber je mehr die Zeit verstrich, desto bedrückter und apathischer wurde sie. Selbst ihr Aussehen wurde ihr gleichgültig. Ich war dankbar für ihre Hilfe, aber es tat mir weh, dass sie so unglücklich war. Ihr Leben war nicht das eines jungen Mädchens in ihrem Alter.
Eines Morgens klopfte es hastig und eindringlich an der Tür. Es war unsere Nachbarin, die völlig verstört wirkte.
»Kommen Sie, Monsieur Rafik. Jemand hat Ihr Haus beschmiert.«
Hussein folgte ihr. Gleich darauf kam er zurück, um Farbe zu holen und die Schmähung zu übertünchen. Er bat uns, nicht hinauszugehen, bevor er fertig war. Trotz seiner Warnungen legte ich meinen Schleier an.
»Geh nicht hinaus! Bitte, Mama, bleib hier!«, flehten Norah und Melissa.
Draußen las ich: TÖTET SIE UND REINIGT EUCH MIT IHREM BLUT !
Diese mit blutroter Farbe geschriebenen Worte erschütterten mich zutiefst. Ich hatte mich daran gewöhnt, solche Drohungen zu hören, doch es war weitaus schrecklicher, sie auf den Wänden meines eigenen Hauses stehen zu sehen.
Einige der verblüfften Nachbarn beschränkten sich darauf, mich anzustarren, aber in einiger Entfernung spuckte ein bärtiger Mann auf den Boden und murmelte eine Verwünschung. Ich musterte die Umstehenden mit festem Blick. In meinem Innern herrschte das blanke Entsetzen, aber ich wollte ihnen zeigen, dass ich mich nicht einschüchtern ließ. Ich wandte ihnen den Rücken zu und ging erhobenen Hauptes ins Haus zurück.
Während Hussein die schändlichen Worte tilgte, trat der bärtige Mann zu ihm.
»Wie kannst du nur mit einer Gefallenen, einer von Gott Verdammten zusammenleben?«
»Du bist derjenige, den Gott verdammt hat!«, schrie Hussein verletzt.
Als er uns den Vorfall schilderte, konnte Norah ihre Wut nicht mehr bändigen:
»Wir werden in diesem Land von Irren noch alle krepieren!«
Ratlos stand ich ihr gegenüber! Wie sollte ich mit vier Kindern fortgehen? Es war alles so schwierig … Sollten wir nicht besser noch eine Weile warten?
Und dann geschah, was ich befürchtet hatte.
Meine Menstruation war bereits wieder sehr regelmäßig, als ich völlig überraschend
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