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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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genug hier.«
    »Das kommt aufs Gleiche raus, Wyatt«, beharrte sie. »Es ist niemand schuld. Sie kennen ihn einfach nicht. Sie kennen uns noch nicht als Ehepaar. Und jetzt das. Reverend Witt wird es sicher in seiner Predigt erwähnen, dass meine Mutter von einem deutschen U-Boot getötet wurde.«
    »Ich will nicht, dass irgendjemand hier ein Problem damit hat, dass ich da bin«, meinte Hans.
    »Hörst du nicht Radio, Hans? Es ist momentan überall so, auf der ganzen Welt!«, erwiderte ich. »Die Probleme gibt’s überall.«
    »Sei still, Wyatt. Sei einfach still«, warf Tilda ein. »Hör zu, Hans hat einen Freund von der Uni aus Vancouver. Er hat sein Studium voriges Jahr abgeschlossen. Hans hat ihn angerufen, und er nimmt uns bei sich auf.«
    »Vancouver – am anderen Ende von Kanada«, antwortete ich.
    »Ja, Wyatt, dort liegt Vancouver«, sagte Tilda.
    »Gut, gut, gut, ich verstehe schon, wie ihr euch das vorstellt. Trotzdem …«

    »Wir haben jeden Penny zusammengekratzt«, fuhr Tilda fort, »und es reicht gerade so, oder fast.«
    »Okay. Ich fahre euch zum Bus«, sagte ich. »Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr heute Abend zu uns rüberkommt. Herrgott, ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll und was eigentlich los ist.«
    »Die Welt spielt verrückt«, entgegnete Tilda. »Das ist los.«
    »Und dass ihr wegwollt – habt ihr euch das gut überlegt?«
    Tilda seufzte tief und sagte: »Die Fahrt mit dem Bus bis Vancouver dauert zwei Wochen und fünf Tage. Wir müssen oft umsteigen. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dir von unterwegs eine Postkarte schicke, Wyatt, aber du erhältst ganz sicher eine, wenn wir da sind.« Sie ging ins Schlafzimmer, und ich sah sie die einzelnen Kleidungsstücke im Schrank begutachten. Jedes Stück, das sie herausnahm, wurde wieder sauber zusammengelegt, egal ob es zurück in den Schrank kam oder in ihren Koffer. Und ich dachte: wie die Mutter, so die Tochter.
    Ich ging nach unten und berichtete Cornelia, dass Constance nicht mehr zurückkehren würde. Wir setzten uns alle zusammen zu Sandwiches und Tee, vermieden es aber, über die Dinge zu reden, die uns alle beschäftigten. Cornelia räumte die Teller ab. »Tilda«, sagte Hans schließlich, »ich würde gern allein zu deinem Vater rübergehen, wenn das möglich ist.«
    »Dann setz du dich eine Weile zu mir, Tilda«, meinte Cornelia. »Wir besprechen alles.«
    »Aber höchstens eine Stunde, nicht mehr«, betonte Tilda. »Und da gibt es nichts zu diskutieren. In einer Stunde bin ich auch da.«
    »Gehen wir doch gemeinsam zu Fuß hinüber, Hans«, schlug ich vor. »Ich lasse das Auto für Tilda da.«

    »Gut«, antwortete Hans. »Gut. Ich hole nur schnell die Grammofonplatten, dann können wir los.«
    Ich nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach meines Autos. Als Hans wieder da war, die Schallplatten in zwei Hemden eingewickelt, machten wir uns auf den Weg. Das Wetter war typisch Oktober – es regnete und war empfindlich kalt. Hans steckte sich die Schallplatten unter den Mantel. Unsere Haare wurden sofort nass. »Na, es ist ja nicht so weit«, meinte ich. Der Lichtstrahl der Taschenlampe war wie ein Tunnel vor uns, durch den schräg der Regen fiel. Wir lehnten uns in den Wind und marschierten so zügig, wie es möglich war. Als wir zum Haus kamen, legte mir Hans plötzlich den Arm um die Schulter und sagte etwas, das ich aber nicht verstand. »Was?«, rief ich.
    Hans hielt die Hände an mein Ohr und sagte: »Heute ist es genauso wie in der Nacht, als Tilda unser Kind empfangen hat. Sie ist sich ganz sicher, welche Nacht es war. Wir waren draußen auf der Straße und sahen die Bibliothek. Tilda hatte einen Schlüssel, also flüchteten wir uns vor dem Wetter hinein. Es war schon Morgen, als wir wieder gingen.«
    Hans überquerte die Straße zu unserem Haus, und so konnte ich nichts mehr darauf sagen oder auch nur die Neuigkeit verarbeiten. Ich beeilte mich, mit ihm Schritt zu halten. Drinnen brannten ein paar Lichter. Der dicke graue Rauch, der aus dem Schornstein drang, wurde verweht und verschwand in der Dunkelheit. Hans wartete auf der Veranda, und als ich bei ihm war, öffnete ich die Haustür, hörte das Radio und trat ein. »Onkel Donald?«, rief ich.
    Hinter mir hörte ich eine Stimme sagen: »Du schlafwandelst nicht zufällig gerade, Hans?«
    »Nein, Sir, tu ich nicht«, antwortete Hans lachend. »Warum sollte ich?«

    Ich drehte mich um und sah meinen Onkel. Er war unbemerkt um die Hausecke gekommen.

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