Der Schlittenmacher
eigene Gerichtsverhandlung in Halifax. Ein Friedensrichter Quill führte den Vorsitz, und Lenore Teachout war wieder die Stenografin. Es war immerhin nett, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Meine Verhandlung dauerte keine ganze Stunde. Ich musste auch den Ablauf des Mordes nicht noch einmal selbst schildern. Ich stimmte einfach der Anklageschrift zu, die Friedensrichter Quill verlas, weil sie in allen Punkten richtig war. Die Wahrheit ist nun einmal die Wahrheit, und man kann sie nicht hinterher durch irgendwelche Ausreden oder Lügen aufweichen. Es bestand kein Zweifel, dass ich zu der widerwärtigen Tat Beihilfe geleistet hatte. »Sie können nicht davon freigesprochen werden«, ist der eine Satz, an den ich mich noch gut erinnere. Ich liebte Tilda nun einmal so sehr, dass ihre Trauer und ihr Schmerz für mich so etwas wie eine Verpflichtung war, die Schuld auf mich zu nehmen. Ich wurde »der Beihilfe zum Mord« schuldig gesprochen und kam schon am nächsten Tag ins Rockhead Prison. Meine Gefängnisstrafe sollte bis Anfang Juni 1945 dauern.
Hans war ermordet worden. Ich fand das Urteil angemessen. Vor allem nachdem Cornelia gemeint hatte, dass noch Schlimmeres zu befürchten wäre.
Die Tage und Nächte im Gefängnis waren leer, bis auf das
Radio. Die Gefängnisbibliothek rettete mich. Ich las dort alles von Charles Dickens. Alles von Victor Hugo. Drei Romane von einem anderen Franzosen namens Stendhal, von dem mir Rot und Schwarz am besten gefiel. Was meine Stimmung betrifft, so hätte ich schon eine ganz normale Melancholie als Erleichterung empfunden. Ich arbeitete während meiner gesamten Gefängnisstrafe in der Holzwerkstatt, wo ich Vogelfutterhäuschen baute, die in ganz Kanada verkauft wurden; der Erlös ging an den Fonds für Kriegswaisen in Ottawa. Die Bibliothek hatte ein ziemlich großes Fenster, von dem man auf Halifax hinunterschaute. Ja, die Stadt war so nahe, dass ich das Feuer sah, das in der Barrington und der Sackville Street wütete und das einen Schaden von 130 000 Dollar verursachte. Ich sah die Queen Mary am Pier 20 anlegen und die Menschenmenge – es waren sicher Tausende –, die auf die Ankunft von Winston Churchill wartete. »Das ist nicht das erste Mal, dass ich in Halifax bin«, hörte ich ihn im Radio sagen, »aber das erste Mal, dass ich so empfangen werde.« Die Mail brachte auf der Titelseite ein Foto von Churchill mit der Londoner Times in der Hand, deren Schlagzeile lautete: VORMARSCH DER ALLIIERTEN ZUR SIEGFRIED-LINIE. Ich hatte absolut keinen Kontakt zu meinem Onkel Donald, abgesehen von einem Umschlag, den er mir aus seinem Gefängnis schickte. Darin lagen nur Zeitungsausschnitte, in denen berichtet wurde, wie ein deutsches U-Boot am 24. Dezember 1944 das Minensuchboot HMCS Clayoquot versenkte, nur fünf Meilen vor dem Leuchtturm auf Sambro Island vor dem Hafen von Halifax. Ich stellte mir vor, dass die Wände seiner Zelle voll waren mit Zeitungsausschnitten.
Und, Marlais, ich las zwar auch die Geschichten in der Mail , in denen all die Dinge berichtet wurden, die vorher streng geheim
waren, aber am V-E Day selbst – es war Dienstag, der 8. Mai 1945 – lag ich mit Husten und Grippe im Bett. Durch das Bibliotheksfenster bekam ich aber doch etwas mit von den Feiern, die völlig aus dem Ruder liefen. Ich hörte die Sirenen und die Krawalle – das, was die Mail als »von Matrosen angefachte Plünderungen« beschrieb.
Ich vergaß zu erwähnen, dass gegen Ende meiner Gefängniszeit einige Änderungen eingeführt wurden und wir Häftlinge auch Filme sehen durften. Am 30. April 1945 konnten elf von uns – in Begleitung von drei RCMP-Beamten – den Film Mr. Winkle Goes to War sehen, mit Edward G. Robinson in der Hauptrolle.
Es gab einige bürokratische Pannen, aber schließlich wurde ich am 15. Juni 1945 entlassen. Ich nahm mir ein Zimmer im Baptist Spa – seit ich das letzte Mal dort übernachtet hatte, waren die Preise um 15 Cent pro Nacht gestiegen – und schrieb sofort einen Brief an Cornelia Tell, in dem ich ihr mitteilte, mit welchem Bus ich nach Hause kommen würde. Sie muss es Tilda erzählt haben – jedenfalls war es für mich die größte Überraschung der Welt, dass Tilda am 19. Juni um sieben Uhr abends an der Esso-Tankstelle in Great Village auf mich wartete. Warum sie das entgegen aller Logik tat, konnte ich mir absolut nicht erklären.
Es war ein angenehmer Abend, die Dämmerung verfärbte den wolkenlosen Himmel rosa und magentarot. Tilda war mit dem Pick-up
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