Der Schlitzer
meisten Menschen nur Ignoranten sind und den Blick für die wesentlichen Dinge verloren haben. Dennoch wollte er ihnen helfen, indem er die geistigen Barrieren, die sie hinderten, einfach sprengte.«
»Stimmt alles. Deshalb ist er für mich so wertvoll.«
Lucy Freeman stand auf. »Ich denke doch, daß es besser ist, wenn er zu Ihnen ins Büro kommt.«
Auch ich hatte mich als höflicher Mensch erhoben. Und ich wurde den Eindruck nicht los, daß mich diese Frau nicht mehr im Haus haben wollte. Wahrscheinlich hatte ich mit meinen Bemerkungen schon in ein Wespennest gestochen. Für mich war dieses Klima hier vergiftet, und die beiden Freeman-Geschwister hielten fest zusammen.
Da hackte keine Krähe der anderen ein Auge aus.
»Noch eine Frage, Mrs. Freeman.«
»Welche?«
»Kennen Sie eine Frau namens Shelly Wagner?«
Sie überlegte nicht, sondern schüttelte sofort den Kopf. »Nein, diese Person ist mir nicht bekannt.«
»Sie hat nicht zu den Klienten oder Kunden Ihres Bruders gehört?«
»So ist es.«
»Seltsam.«
Ich hatte sie mißtrauisch gemacht. Deshalb fragte sie rasch. »Wieso ist das seltsam?«
»Das will ich Ihnen gern sagen. Durch Shelly Wagner sind wir eigentlich auf Ihren Mann gekommen. Sie hat uns, wenn Sie so wollen, den entscheidenden Tip gegeben.«
»Aha«, rief Lucy gedehnt. »Dann hat diese Person meinen Bruder als Mörder denunziert.«
»Nein.«
»Was ist sie dann?«
»Eine Zeugin. Sie hat ihn auf dem Friedhof gesehen, von dem ich sprach. Mehr nicht.«
»Sie hat sich geirrt.«
»Kann sein, aber das soll mir Ihr Bruder selbst sagen.« Ich steckte das Bild wieder ein. »Schade, ich hätte gern mit ihm gesprochen, aber das ist wohl nicht möglich. Ich kann auch nicht hier im Haus bleiben, wenn Sie es nicht wollen, aber ich werde Ihnen gleich sagen, Mrs. Freeman, daß mir dieser Fall einfach zu wichtig ist, um ihn an der langen Leine laufen zu lassen. Deshalb habe ich sie etwas gekürzt. Und das sieht folgendermaßen aus. Ich bleibe in der Nähe, und nicht nur ich. Es sind einige Kollegen, die draußen warten. Wir wollen einfach mit Ihrem Bruder reden, Mrs. Freeman, nicht mehr und nicht weniger.«
Sie blickte zu Boden. In ihrem Innern tobte ein Sturm. Mit dem letzten Bluff hatte ich sie überrumpelt, und ich war gespannt darauf, wie sie reagieren würde. Vor ihr hatte ich die Tür zum Flur erreicht. »Ich bin davon überzeugt, Mrs. Freeman, daß wir uns in dieser Nacht noch einmal gegenüberstehen werden.«
Dann ging ich.
Nicht schnell, sondern langsam. Ich wollte ihr die Chance zu einer Umkehr geben.
Im Flur sah ich die schlichte Garderobe, und mir fiel auf, daß ein Spiegel fehlte. Auch hier waren die Wände mit vergilbten Tapeten bedeckt, die Lampe an der Decke hatte Staub angesetzt und warf ihre breiten Lichtbahnen über die Wände.
Links von mir, auch schon in meinem Rücken und mehr zu ahnen als zu sehen, wurde dieser ruhige Schein durch eine heftige Bewegung gestört. Ein tanzender Schatten, nicht mehr, aber der reichte aus, um mich zu warnen.
Ich duckte mich und drehte mich gleichzeitig herum. Meine rechte Hand wollte die Beretta ziehen, dazu kam ich nicht mehr, denn etwas hämmerte gegen meinen Hals.
Es war ein wuchtiger, ein mörderischer Hieb, dem ich nichts entgegensetzen konnte.
Ich rutschte einfach, schlug noch mit dem Kopf gegen die Wand und hörte über mir das Kichern und die gleichzeitig gezischelten Worte. »Von wegen Kollegen, Sinclair, das glaube ich dir nicht. Du bist allein gekommen, allein…«
Sie lachte scharf, und dieses Lachen begleitete mich in das Dunkel der Bewußtlosigkeit…
***
Mit einem heftigen Ruck wurde die Tür von innen aufgerissen, und eine entsetzte und totenbleiche Shelly Wagner schaute Suko an. Selbst sein Anblick konnte ihre Angst nicht dämpfen. Sie stürzte vor, und er hörte ihr von Schluchzlauten unterbrochenes Stammeln. »Er ist da! Er ist da! Er ist bei mir.«
Suko wußte, wen sie meinte. Er schaute in den nur mäßig erhellten Flur, ohne etwas zu sehen, das seinen Verdacht erregt hätte. In der Wohnung blieb es ruhig.
Für ihn war es wichtig, daß Shelly nicht im Flur blieb, sondern erst einmal zur Ruhe kam. Es sollten zudem auch keine anderen Nachbarn aufmerksam werden. Sie wehrte sich nicht, als Suko sie zurückdrückte. Wahrscheinlich bekam sie gar nicht richtig mit, was mit ihr geschah. Suko schloß die Tür, schaute noch einmal durch den Flur und konnte keine unmittelbare Gefahr für Shelly oder sich erkennen. Shelly
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