Der Schlitzer
sah, präziser zu werden. »Seine Forschungen, die sicherlich wichtig sind, führt er bestimmt am Objekt durch.«
»Das ist richtig.«
»An Menschen?«
Diesmal schenkte sie mir ein kantiges Lächeln und drückte dabei ihre Zigarette aus. »Ich ahne, worauf sie hinauswollen, Mr. Sinclair. Ja, es geht um Menschen, aber sicherlich nicht so, wie Sie denken. Die Menschen, mit denen mein Bruder beruflichen Kontakt pflegt, kommen freiwillig zu ihm. Sie sind seine Patienten. Sie wollen, daß er sich mit ihnen beschäftigt. Sie möchten mehr über sich erfahren, sie wollen einfach die Grenzen ihres Seins sprengen.«
Ich begriff es nicht so recht und sagte dies auch. »Welche Grenzen meinen Sie denn?«
Sie tippte von zwei Seiten gegen ihre Stirn. »Die geistigen Grenzen. Um es auf einen Nenner zu bringen und für Sie einfacher zu machen. Einfach das Bewußtsein sprengen. Nicht mehr die Enge zu haben, ist für viele Menschen einfach unbeschreiblich. Sie kamen raus aus diesem geistigen Gefängnis, denn durch meinen Bruder eröffneten sich ihnen völlig andere Welten.«
»Er macht sie also frei.«
»Ja.«
»Geistig frei. Reißt Barrieren ein.«
»Das ist ebenfalls richtig.«
»Wie macht sich das bemerkbar?«
Lucy Freeman schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie mich nicht fragen, Mr. Sinclair. Da müssen Sie schon seine Patienten interviewen. Oder auch ihn persönlich.«
»Das wäre mir lieb.«
»Ich glaube es Ihnen sogar.« Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Nur ist er leider noch nicht im Haus. Ich weiß auch nicht, wann er zurückkehrt…«
»Ich habe Zeit.«
Nach dieser Antwort vereiste ihre Mimik. Es gefiel ihr nicht, daß ich diesen Satz gesagt hatte. »Heißt das, daß Sie warten wollen, Mr. Sinclair?«
»Ja, bis Ihr Bruder kommt.«
»Das kann aber dauern.«
»Die ganze Nacht über?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. James ist eben öfter unterwegs.«
»Ja, ich weiß«, murmelte ich. »Und hin und wieder sogar auf einsamen Friedhöfen, nicht wahr?«
Dieser locker dahingesprochene Satz ließ sie versteifen. Etwas irritiert bewegte sie ihre rasierten Augenbrauen. »Wie soll ich das nun wieder verstehen? Weshalb sagen Sie so etwas? Das kommt schon einer Diskriminierung gleich.«
»Finden Sie? Ich nicht, Mrs. Freeman, denn Ihr Bruder ist auf dem nahen Friedhof gesehen worden.«
Sie lachte mich an. Es klang unecht. »Himmel, was soll er denn dort zu suchen gehabt haben?«
»Das möchte ich ihn fragen.«
Lucy Freeman schaute auf ihre Hände, die sie jetzt wieder zusammengelegt hatte. »Hat das denn etwas mit dem Mord zu tun?«
»Schon.«
»Was, bitte?«
»Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls hat uns diese Tat einige Rätsel aufgegeben, und ich bin sicher, daß Ihr Bruder uns weiterhelfen kann. Der Mord geschah übrigens auf dem Friedhof. Zur selben Zeit hielt sich auch Ihr Bruder dort auf.«
Es war zu sehen, wie es in Lucy Freemans Gesicht arbeitete. Da zeichneten sich ihre Gedanken ab, und es waren beileibe keine guten, wie ich erkennen konnte. »Wenn ich Ihre Worte richtig interpretiere, halten Sie meinen Bruder für den Mörder — oder?«
Ich hob beide Hände. »Augenblick, Mrs. Freeman, das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
»Das können Sie nicht wissen. Ich will mit Ihrem Bruder reden, weil ich davon überzeugt bin, daß er uns helfen kann. Nicht mehr und auch nicht weniger.«
»Gestatten Sie, daß ich anders darüber denke?«
»Das ist Ihr gutes Recht.«
»Ich habe eher den Eindruck, daß sie ihm eine Falle stellen wollen. Daß Sie durch die Hintertür an ihn herankommen wollen. Ich will Ihnen etwas sagen. Mein Bruder James ist ein Mensch, der haushoch über den anderen steht. Seine Forschungen sind nicht nur einmalig, sie sind auch genial. Er versucht sich auf einem Gebiet, das der Menschheit bisher so gut wie verschlossen gewesen ist. James ist ein hochbegabter Wissenschaftler. Der Verhaltensforscher überhaupt. Er gehört zu den Menschen, deren Wissen die Menschheit einige Schritte weiterbringt. Und da kommen Sie in sein Haus und verdächtigen ihn, einen Mord begangen zu haben. Das finde ich unverschämt und anmaßend. Tut mir leid.«
»Ich habe nie davon gesprochen, daß er ein Mörder ist, Mrs. Freeman.«
»Nein, nicht direkt, aber unterschwellig sind Sie der Ansicht. Ich spüre es, denn durch meinen Bruder habe ich die Menschen kennengelernt. Er hat mich vieles gelehrt, das können Sie mir glauben. Er hat mir auch immer wieder zu verstehen gegeben, daß die
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