Der Schlüssel zum Tode Kommissar Morry
Wenn er nicht sofort Hilfe fand, war er verloren. Er mußte handeln. Er mußte die letzten Kräfte zusammennehmen. Es ging um jede einzelne Sekunde.
Er öffnete die Wagentür, klammerte sich krampfhaft am Rahmen fest, hob sich ächzend aus den Polstern. Schwarz gähnte die Nacht vor seinen Augen. Er konnte nichts erkennen. Farbige Nebel wogten vor ihm auf und nieder. Er wurde so schwindlig, daß er kaum ein paar Schritte tun konnte. Mit letzter Mühe erreichte er den Gehsteig. Dort brach er wieder zusammen. Todesangst krallte sich um sein Herz. Er fürchtete sich davor, einsam und verlassen auf einer schmutzigen Straße zu sterben. Meterweise kroch er vorwärts.
Er hoffte inbrünstig, Ruth Bonfields Blaue Taverne zu erreichen. Sie war nicht weit entfernt. Hundert Meter etwa. Ein Mensch, der aufrecht stand und alle Kräfte besaß, konnte die Strecke in einer Minute schaffen. Aber Inspektor Hester, der mit letzten Kräften Zoll um Zoll zurücklegte, mußte schließlich die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen einsehen. Er blieb liegen, wo er war. Er preßte die Linke an die brennende Wunde und suchte mit der Rechten nach seiner Trillerpfeife. In diesem Moment sah er einen Schatten vor sich auftauchen. Der Schatten kam langsam auf ihn zu und beugte sich über ihn.
„Helfen Sie mir“, bat Inspektor Hester mit schwacher Stimme. „Rufen Sie einen Arzt. Verständigen Sie meine Kollegen in Scotland Yard. Beeilen Sie sich! Ich habe nicht mehr viel Zeit.“
Wie konnte er auch wissen, daß es ausgerechnet sein Mörder war, der jetzt an seiner Seite kauerte. Zwei Hände durch wühlten die Taschen seines Anzugs und seines Mantels. Zehn verkrümmte Finger schlossen sich hastig um die beiden Listen, die Inspektor Hester erst am heutigen Abend von Chefinspektor Grahan empfangen hatte. Das Rascheln der Papiere war im Moment das einzige Geräusch. Trotz seiner Ohnmacht erriet Inspektor Hester schließlich, was man mit ihm vorhatte. Jede Sekunde wartete er auf einen zweiten Schuß. Bei jedem Herzschlag glaubte er, einen dumpfen Knall in den Ohren dröhnen zu hören.
In diesen entsetzlichen Sekunden gab ihm die Todesfurcht den einzig richtigen Rat: Alarm zu schlagen, um den hinterhältigen Mörder zu verscheuchen. Er fand seine Trillerpfeife, er führte sie mit letzter Kraft noch an die Lippen. Hell und schrill klang der Ton durch die nächtlichen Straßen. Es war die letzte Handlung Inspektor Hesters. Nach dem Alarmpfiff fielen seine Arme wie gelähmt herab. Er konnte sich kaum noch bewegen. Es wurde immer dunkler vor seinen Augen. Schon nach einer halben Minute stand die erste Nachtstreife am Tatort des abscheulichen Verbrechens.
„Um Gottes willen, Sir! Was ist geschehen?“, fragten die beiden Konstabler wie aus einem Munde. „Wer hat das getan? Haben Sie diesen Schurken erkannt?“
Inspektor Hester versuchte den Kopf zu schütteln. Aber es wollte ihm nicht mehr gelingen. Er brachte nur noch ein paar gurgelnde Worte über die Lippen.
„Sagen Sie meinem Chef . . murmelte er, „sagen Sie Kommissar Morry, daß ich . . . daß er . . .“
Das Gemurmel erstarb. Inspektor Hester sagte nichts mehr. Er schloß die Lippen, um sie nie wieder zu öffnen. Noch in der gleichen Nacht fand in Scotland Yard eine Sondersitzung hinter verschlossenen Türen statt. Die Erbitterung über den jähen Tod Inspektor Hesters war so ungeheuerlich, daß der Sektionspräsident seine Beamten immer wieder zur Ruhe ermahnen mußte. Wohin er auch sah, blickte er in verstörte Gesichter und empört flammende Augen.
Die Erregung legte sich erst, als der Sektionspräsident mit lauter Stimme bekanntgab, daß er die Aufklärung des Mordes an Inspektor Hester dem bewährtesten Mann des Sonderdezernats in die Hände legen würde. Schon eine halbe Stunde später erhielt Kommissar Morry den dringenden Auftrag, alle anderen Arbeiten liegen zu lassen und den Fall sofort zu übernehmen.
10
Auch am nächsten Abend saßen Hope Bolton, Alban Vock und Bill Webster wie immer an ihrem Stammtisch in Ruth Bonfields Blauer Taverne. Sie aßen und tranken und rauchten große Zigarren. Ihre Gesichter glänzten vor Zufriedenheit. Es ging ihnen gut, das konnte jeder sehen. Nach einer Weile tauchte Frederick Lawes an ihrem Tisch auf. Er setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, rieb seinen Buckel an der Rückenlehne und machte ein außergewöhnlich dämliches Gesicht.
„Mir wollen“, brummte er, „die Diamanten bei Alfred Glashill nicht aus dem Kopf. Bei
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