Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
halb über den Sarg legen, um ordentlich stemmen zu können, und dann befindet sich sein Gesicht unmittelbar über ihrem, ihr toter Blick dringt durch den Sargdeckel und findet seine lebendigen Augen, und schließt er die Augen, vernimmt er ihre Stimme in seinem Kopf. Es ist nicht schön, tot zu sein, sagt sie, es ist kalt, ich werde ganz bitter und grausam vor Kälte. Lass mich nicht im Stich!
Er reißt die Augen auf, und es ist ihm völlig egal, wenn die heranpeitschenden Schneekörner schmerzend seine Augen treffen, denn die Stimme verstummt sogleich. Bloß die Augen offen halten! Dann aber steigt der Hang so steil an, dass er den Sarg wieder in den Armen halten und Schritt für Schritt hochstemmen muss. Vor Anstrengung schließt er unwillkürlich die Augen und hört augenblicklich die Stimme: Magst du mich denn so tot noch in die Arme nehmen?
Kennst du den Weg?, fragt Jens, als sie lange später einmal rasten. Die Berge, die zu Beginn ihres Marsches noch rundum über ihnen zu sehen waren, verschwanden nach und nach im Schnee und mit ihnen die Himmelsrichtungen, der Horizont und überhaupt alles, was für eine Bergüberquerung bei großer Kälte und eisigem Nordwind vonnöten ist.
Kennst du den Weg?, fragt Jens vielleicht ein wenig besorgt, aber auch erleichtert, weil sie sich mit jedem Schritt vom Eismeer entfernen, das in der vergangenen Nacht bis in seine Träume hineingekrochen ist und sich so schwer auf seine Brust legte, dass er mit einem kalten Herzen aufgewacht ist.
Mehr oder weniger, antwortet Hjalti. Was kennt man schon wirklich genau? Aber ich bin hier schon langgegangen.
Sie hocken auf der windabgewandten Seite des Sarges, im Schatten des Todes, der Junge wie ein Knabe zwischen den beiden ausgewachsenen Männern, die sich wieder einmal Eisbrocken aus den Bärten zupfen. Es ist anstrengend, mit einem toten Menschen zu wandern. Der Schlitten hilft natürlich, und manchmal ist der Schnee dick genug verharscht, streckenweise geht es aber auch nur sehr mühselig voran durch weichen Schnee und Verwehungen, schneegefüllte Senken und Löcher. Die beiden Hünen ziehen, der Junge schiebt, sie sinken im Schnee ein, geraten abwechselnd ins Schwitzen und kühlen aus. Irgendwo weit hinter ihnen steht ein Haus mit Kindern, ihrem Vater, einem Hund und einer Greisin, ziemlich leer nun, nachdem Hjalti fort ist. Seine Abwesenheit erinnert auch an die tote Ásta, fast als wäre sie ein zweites Mal gestorben. Bjarni sitzt tatenlos da und schaut vor sich hin, Sakarías sucht Trost bei der Hündin, die eben diese Augen hat und eine breite und weiche Zunge; die drei Übrigen müssen sehen, wie sie zurechtkommen, sie sind ohne Zuflucht.
Die drei Männer oben sind gut vorangekommen. Lediglich nach dem schwierigsten Anstieg haben sie sich erlaubt, kurz durchzuschnaufen, Hjalti und der Junge haben ein paar Worte miteinander gewechselt, während Jens schweigend danebenstand und nicht ein Wort sagte. Jetzt aber legen sie eine Rast ein.
Wir müssten mehr sein, bemerkt Hjalti, nicht um sich zu beschweren, sondern als Feststellung. Wie fühlt es sich an, ihr so nah zu sein?, fragt er den Jungen.
Kalt, antwortet der.
Das glaube ich. Redet sie mit dir?
Wenn ich die Augen zumache, rutscht es dem Jungen heraus, aber hier oben in den Bergen lässt sich auch gar nichts anderes als die Wahrheit sagen, Lügen und Halbwahrheiten gedeihen hier nicht; es sind keine Menschen da, sie zu pflegen.
Tote reden nicht, sagt Jens.
O doch, widerspricht Hjalti, jedenfalls mehr als du.
Der Junge: Sie spricht mit mir … oder zu mir.
Dir fehlt es an Bodenhaftung, sagt Jens unverblümt wie zur Erklärung. Sie drehen dem Sarg den Rücken zu, so fällt es leichter, sich auszuruhen und zu reden.
Das kann ich mir vorstellen, sagt Hjalti nachdenklich, und unter eisverkrusteten Brauen hervor mustern seine blauen Augen den Jungen. Aber Tote reden trotzdem, das weiß ich, und ich bin ganz sicher bodenständig.
Nur etwas, das lebt, kann auch sprechen, sagt Jens und schüttelt sich, ein Schauer hat ihn überlaufen, dieses widerliche Schauern, das von innen kommt.
Es gibt solchen und solchen Tod, meint Hjalti, und dazwischen gibt es große Unterschiede. Ein totes Schaf ist ein totes Schaf. Das Gleiche gilt für die Fische, aber ein Mensch stirbt nicht so leicht.
Ich hoffe, du hast recht, sagt der Junge.
Hoffen!, ruft Hjalti. Ich spreche von Tatsachen. Was das angeht, kannst du mir ruhig glauben. Ich weiß, wovon ich rede. Jetzt könnte ich was zu
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