Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Hjalti.
Der Sturm jault, pfeift, heult vor der Höhle, wartet ungeduldig, dass die Männer wieder herauskommen, damit er etwas anderes zu spielen hat als immer nur den Schnee. Ansonsten gibt es hier nur noch Berge, und es braucht ein paar Tausend Jahre, um sie zu versetzen. Vielleicht streunt noch irgendwo ein Fuchs herum oder ein Rabe, aber die Tiere lassen sich von einem Sturm nicht so übel mitspielen wie die Menschen, die wehrlos sind, sobald sie einmal aus ihren Häusern und Höhlen kommen. Er schickt ein paar Windstöße zu ihnen hinein, überstäubt sie und den Sarg mit Schnee, um zu testen: Seid ihr kaputt da drinnen, oder tot? Hjalti versucht auf die Schnelle eine Wand gegen die Böen aufzuschichten, und es funktioniert, fast so, als wären sie tiefer in die Höhle zurückgewichen; das Heulen klingt ferner, die Böen werden schwächer, sie können ihre Atemfahnen sehen, und eine angenehme Müdigkeit überkommt sie, sie gucken fast zufrieden vor sich hin, der Junge schließt sogar die Augen und lässt seine Träume in die Wirklichkeit einfließen. Hjalti und Jens rücken ihm fern, treiben in eine andere Welt, und der Schlaf webt langsam und sorgfältig ein schützendes Gespinst um ihn. Ein leises Grunzen kommt aus seinem halb offenen Mund, ein dünner Speichelfaden friert an seinem Kinn fest. Jens ist der Erste, der argwöhnisch wird, das liegt an seiner Erfahrung und an seinem Charakter. Es stimmt etwas nicht, wenn man sich unter solchen Bedingungen wohlfühlt; dann besteht Lebensgefahr. Er schüttelt das anfängliche leichte Dösen ab, spreizt die kalten Finger in den steifgefrorenen Fäustlingen, bewegt die tauben Zehen und sieht den Jungen in die Tiefen von Schlaf und Traum abdriften. Erst sinkst du in angenehme blaue Träume, doch werden sie ganz allmählich zu einem angenehmen schwarzen Tod. Es kann alles zugleich sein, schön, traurig und erschreckend, wenn man jemanden einschlafen sieht, wenn man beobachtet, wie die Gesichtszüge schlaff werden, wie das Unterbewusstsein zum Vorschein kommt, diese innere Landschaft eines Menschen, die er sein Leben lang abwechselnd versteckt, vergisst und wiederentdeckt. Jens zögert, als würde er den Jungen ungern wecken. Hjalti stiert teilnahmslos vor sich hin. Schließlich seufzt Jens ergeben und rammt Hjalti fest den Ellbogen in die Seite; der fährt auf und ruft: Soll doch der Teufel alles zusammen holen! Er brüllt es fast heraus, und der Junge schreckt schlagartig aus seinen Träumen hoch.
Besten Dank, Kumpel, sagt Hjalti zu Jens. Gewalt hat mir eigentlich nie geschmeckt, aber für diesen Rippenstoß danke ich dir. Ich war so gut wie eingeschlafen und habe Ásta hier vor dem Eingang stehen und mir Zeichen geben sehen, dass ich zu ihr kommen soll. Ich habe wohl auch schon geträumt, zu ihr unterwegs zu sein, dabei saß ich ja noch hier. Es stirbt sich viel zu leicht hier in diesen Bergen, eigentlich braucht man bloß die Augen zuzumachen. Aber was täte das gut, wenn man jetzt etwas zu essen hätte! Etwas Anständiges, meine ich. Für eine dicke Scheibe geräuchertes Lammfleisch könnte ich jemanden umbringen. Seid ihr denn nicht hungrig? Ich könnte ein ganzes Schaf verputzen.
Wenn nicht zwei, ergänzt der Junge.
Hört auf, vom Essen zu reden, sagt Jens und kriecht zum Eingang. Er streckt den Kopf nach draußen, um die Lage zu erkunden, da versucht der Sturm kurzerhand, ihm den Kopf abzureißen.
Es ist schlimmer geworden, sagt Jens und spuckt Schnee aus.
Es ist schwer, sich wach zu halten. Die Müdigkeit lässt ihre Muskeln zittern, kreist durch die Blutbahnen, und sie schütteln sich ab und zu, wie es die Tiere tun, reden aber kaum, eigentlich gar nicht. Ihre Gedanken sind wie Fische in fauligem Wasser, sie sind fast nicht auszumachen und lassen sich nicht fangen. Wenn sie überhaupt einen Gedanken fassen können, dreht er sich um Essen. Ohne es zu merken, fängt der Junge an, die Melodie eines einheimischen Weihnachtslieds zu summen: »Schenkt den Kindern Brot als Gaben, damit sie Weihnachten zu beißen haben«, und starrt dabei apathisch vor sich hin, bis Hjalti einstimmt, leise zuerst, aber schon bald füllt seine Stimme kräftig, klar und mit weichem Timbre die ganze Schneehöhle aus. Da hebt der Junge auch die Stimme, und sie singen laut noch mehr Weihnachtslieder, brüllen sie hinaus, damit sie weit in die Berge schallen. Sie singen Weihnachtslieder in einem Loch im Schnee, weit entfernt von allen menschlichen Behausungen und mit den Rücken an
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