Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
essen vertragen.
Er guckt Jens an, der sagt: Ihr werdet euch beide noch um Kopf und Kragen quatschen, und reicht ihm ein Stück Fleisch. Der Wind pfeift. Es wird langsam Abend.
Es wird Abend, und der Junge schiebt den Sarg. Sie sind inzwischen so hoch oben, dass sie nicht mehr der bewohnten Welt und den Menschen angehören, sie sind Teil der unberührten Natur und der Luft des Himmels, ein Paradies im Sommer, Strapazen und Tod im Winter. Sie mühen sich immer weiter, werden müde, können aber nirgends anhalten, nichts bietet Schutz. Die Anstrengung hält sie immerhin einigermaßen warm, nur die Finger werden kalt, die Füße auch, die Zehen sterben ab, sie wimmern leise wie kleine Tiere. Wenn du dem Himmel näher kommst, wird es immer kalt. Der Schnee peitscht von allen Seiten auf den Jungen ein, dringt durch jede Öffnung und wirbelt ihm ins Gesicht, das längst steif vor Kälte ist. Er kann kaum sprechen, selbst wenn er es wollte. Sein Gesicht ist fast ebenso steif wie das der Frau, die gemütlich im Sarg ruht und sich tragen lässt. Die Toten sind egoistisch. Sie lassen die Lebenden für sich arbeiten und flößen ihnen obendrein noch ein schlechtes Gewissen ein, dass sie nicht genug tun würden. Der Junge verwünscht die Frau dafür, dass sie gestorben ist und Jens und ihn herbeigelockt hat, dass sie ausgerechnet ihn für diese Plackerei aussuchen musste, er verwünscht sie dafür, dass sie es sich im Sarg gut gehen lässt, anstatt aufzustehen und ihnen beim Ziehen und Schieben zu helfen. Er sieht die beiden vorn vor dem Sarg, aber es fällt zusehends schwerer, sie vom fallenden Schnee zu unterscheiden. In dieser Gegend sind schon Menschen zu Schnee geworden und nie wieder gesehen worden, im Sommer sind sie geschmolzen und mit dem Weiß in die Erde gesickert. Eine schönere Art zu sterben dürfte es kaum geben, obwohl sterben nie schön ist, nur das Leben ist schön. Die Männer ziehen mit dem Sarg weiter.
Jens schimpft im Stillen auf seinen rechten Arm, der manchmal einschläft. Teufel, denkt er und dreht sich ganz schnell um, da ist der Sarg, da der Schlitten und der Junge, ganz weiß von Schnee, aber er ist noch da. Jens sinkt bis zu den Knien ein und denkt an Salvör. Nimm mich! Ist es nicht das, was ihr Männer wollt. Schwer, diese Worte jemals zu vergessen, sie holen ihn immer wieder ein, suchen ihn heim, klagen ihn an. Kannst du leben, ohne mich zu hintergehen, hat sie ihn einmal gefragt; das war an einem Sommerabend vor bald einem Jahr, sie lagen vor der Welt versteckt im hohen Gras, ein Rotschenkel zeterte ohne Unterlass über ihnen, ansonsten war es still, blaugraue Wolken trieben dahin und nahmen unterschiedliche Gestalt an, der Wind schlief im Gras, kaum ein Halm regte sich, ein einzelner Schmetterling taumelte herum und saugte die wenigen Stunden in sich auf, die ihm vergönnt waren. Er schlug mit den weichen Flügeln, rätselhaft wie Seide. Salvör streckte langsam den nackten Arm aus und einen Finger, und wie durch einen Zauber setzte sich der Schmetterling darauf und klappte mit den Flügeln. Sie führte den Finger nah an sein Gesicht, ganz langsam, um das Wesen mit den traumgleichen Flügeln nicht zu erschrecken. Ist er nicht schön, hatte sie gefragt. Ja, sagte er und hielt den Atem an, damit der Schmetterling nicht wegflog. – Warum sagst du das? – Weil er wirklich schön ist, nehme ich an. – Auf welche Weise? – Die Flügel, sagte er und rückte näher heran. Der Schmetterling war zur Ruhe gekommen und zitterte nicht mehr. Ist er nicht ein bisschen wie das Leben, das Leben aus der Ferne, hatte Salvör gefragt. Aber wenn du aus der Nähe genauer hinsiehst, erkennst du, dass es nur ein Wurm mit Flügeln ist. Vorsichtig pustete sie den Schmetterling vom Finger und fragte dann flüsternd, als traue sie sich die Frage kaum zu stellen, weil sie vielleicht die Antwort fürchtete: Kannst du leben, ohne mich zu verraten? Er hatte ihre Hände genommen, er hatte ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen und gesagt: Lieber sterbe ich, als dich zu verraten. Da hatte sie zu weinen begonnen, vor Glück vielleicht oder weil sich etwas viel leichter sagen als leben lässt. Sie hat den Verrat in mir gesehen, denkt Jens und zerrt ein Bein aus dem über kniehohen Schnee. Sie hat geweint, weil ich ein Feigling bin, wie auch ihr Mann einer gewesen ist. Treuebruch nach dem ersten Schluck, es braucht nicht einmal diesen ersten Schluck. Er zieht so kräftig an, dass der Schlitten einen Satz macht und der Junge
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