Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Kälte auszupacken, es ist fast unmöglich, lange genug aufrecht und bewegungslos stehen zu bleiben. Der Morgen aber bringt ein Einsehen, auf einmal erkennt man wieder etwas von der Umgebung, Berghänge, Talsenken, und der Wind lässt so weit nach, dass auch ein normaler Mensch wieder aufrecht stehen kann. Von wirklicher Sicht kann noch nicht die Rede sein, aber es klart so weit auf, dass Hjalti sich orientieren kann.
Ach, hier sind wir, sagt er, und sofort sieht alles viel besser aus, wirkt die Welt nicht mehr so feindselig. Ein Stück weiter nach Norden, sagt Hjalti, und sie tun’s, schwenken etwas nördlicher ein, und wenn sie nicht so müde und fertig wären, nicht so hungrig und durstig und wenn sie nicht die Verantwortung für eine Tote trügen, die riecht wie ein geräucherter Lammbraten am Weihnachtsabend, dann wäre alles bestens, dann könnten sie ein bisschen singen oder vor sich hin denken. Doch aus irgendeinem Grund wird der Sarg immer schwerer. Der Tod wiegt mit jedem Schritt eines Menschen schwerer, heißt es irgendwo, und diese drei noch am Leben befindlichen Männer würden den Satz mit voller Zustimmung unterschreiben. Wie gut, dass die beiden zusammen mindestens fünf Männer aufwiegen, denkt der Junge und schiebt hinten am Sarg. Der Räuchergeruch steigt ihm manchmal in die Nase, aber hier an der frischen Luft ist er weniger aufdringlich.
Sie haben sich nicht getraut, noch länger in ihrer Schneehöhle auszuharren, der Geruch war ebenso übermächtig geworden wie der Wunsch einzuschlafen, es war fürchterlich kalt, als sie die Höhle verließen und sich wieder vor den Sarg spannten, selbst Jens hielt in dem schneidenden Wind den Atem an. Die erste Stunde war furchtbar. Sie kämpften gegen den Sturm an, ohne wirklich voranzukommen, und hielten auch keine bestimmte Richtung ein, sondern konzentrierten sich voll und ganz darauf, sich nicht umwehen zu lassen und auf den Beinen zu bleiben und weder den Sarg noch einander zu verlieren. Aber dann verlor der Wind seine wütendste Stärke, es wurde heller, und Hjalti konnte seine erlösenden Worte sagen: Ach, hier sind wir. Und sie zogen weiter, vier Menschen, drei am Leben, einer tot – ist das nicht ein ganz respektables Ergebnis? Wurde es heller Tag, bald Mittag, oder stand ihnen noch eine Nacht bevor? Schritt vor Schritt vor Schritt, und die Freude über Hjaltis Feststellung verflüchtigt sich so langsam; sie ziehen, schieben, brechen ein, ringen nach Luft, Jens’ und Hjaltis Bärte vereisen über der Oberlippe, der Junge fühlt nichts mehr außer seinen Augen. Die Bergwände verschwinden wieder, der herumwirbelnde Schnee nimmt ihnen die Sicht, der Wind wird stärker, kommt ihnen fast direkt entgegen, es wird bald Abend, der Junge schließt die Augen, ihm wird vor Erschöpfung schwarz. Das Glück hat keine Ausdauer, sagt die Frau in seinem Kopf, das Bittere ist zäh und bleibt dir treu. Die Liebe ist flüchtig, der Hass beständig.
Das stimmt nicht, widerspricht der Junge.
Was stimmt nicht?
Liebe ist …
Was weißt du schon von der Liebe, unterbricht sie. Was hast du geliebt, wo sind die Tage, die Jahre, die deine Liebe überdauert hat? Wen liebst du denn?
Meine Mutter, möchte er sagen, Vater, Lilja, Bárður, aber er bricht schnell ab, denn alle sind sie tot. Er vergisst, dass Ásta in seinem Kopf steckt und ihr vermutlich kein Detail verborgen bleibt. Ihr Lachen klingt kalt. Natürlich liebst du nur Tote, was glaubst du, weshalb du dich mit mir unterhalten kannst? Das Beste befindet sich alles hier auf dieser Seite. Kämpf nicht mehr dagegen an, oder kann dir das Leben das bieten, was der Tod für dich bereithält? Tut die Wahrheit wirklich so weh, fragt sie, als er die Augen aufreißt, um sie abzuschütteln. Der Sturm, der ihm ferngerückt war, schlägt wieder mit voller Wucht zu.
Von jetzt an kann ich immer mit dir reden, sagt sie, und es stimmt, jetzt hört er sie auch mit geöffneten Augen. Hjalti und Jens sind vorn vor dem Sarg undeutlich auszumachen. Sie wären erleichtert, dich los zu sein, sagt sie, du bist ihnen eine Last. Du bist schwach, sie sind stark, und dieser Jens hat seit Langem genug von dir.
Der Junge versucht, an Ragnheiður zu denken, unbewusst sucht er nach dem, was das Blut anheizt, nach dem Gegenteil des Todes, nach Lust und Begehren. Er denkt an den Bonbon, den sie ihm in den Mund geschoben hat, an ihren glänzenden Speichel, an die Wärme, als sie sich im Hotel an ihn gepresst hat, an ihre Schultern, weiß wie
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