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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Mondlicht, an ihre Lippen, feucht und weich … Nennst du das Liebe, fragt die Stimme in seinem Kopf.
    Ja, das ist Liebe, ganz bestimmt! Was weißt du davon, du bist tot! Aber warum denkst du dann auch an diese Frau in der Badewanne? Tu ich gar nicht. An die Wassertropfen auf ihren Brüsten. Natürlich tust du das. Dabei ist sie so viel älter als du. Magst du ältere Frauen? Ich bin auch älter als du, du kannst mich haben. Du bist grausam. Unsinn, ich bin bloß tot, genau wie die, die du liebst, deine Familie, die du vermisst, an die du die ganze Zeit denken musst, mehr als an alles, was lebt. Jetzt hast du die Gelegenheit, zu ihnen zu kommen, du musst dich vorher nur ein Weilchen zu mir legen. Willst du denn nicht endlich diesem Sturm entrinnen, erschöpft es dich nicht, ständig dieser Kälte ausgesetzt zu sein, dieser Müdigkeit, dem Hunger, dem Durst? Und ihr habt noch mindestens eine Nacht und einen Tag vor euch, das ist eine unerträglich lange Zeit. Ist es nicht auch ermüdend, ewig dieses traurige Leben zu leben, jeden Morgen aufzuwachen und diese Sehnsucht und das Vermissen auszuhalten? Du gehörst zu den Toten, nicht ins Leben, deine Heimstatt ist bei uns, enttäusche nicht die, die du liebst. Leg dich hin, schließ die Augen, ich lege mich zu dir. Ich lege mich zu dir, wir werden beieinanderliegen, und wenn du die Augen wieder aufschlägst, wird alles gut sein.

XIV
     
    Ich weiß gar nicht, warum ich mich umgedreht habe, sagt Hjalti zu dem Jungen, als sie im Windschutz des Sarges neben ihm knien und die beiden Hünen ihn aus dem Schnee gezogen haben. Der Junge ist tatsächlich Ástas Worten gefolgt und hat sich in den Schnee fallen lassen; er war schon auf dem Weg in eine daunenweiche, schöne Welt, als sie ihn in die Höhe rissen, irgendwas riefen, schrien, ihn aus dem Weichen und Schönen in diesen vermaledeiten Sturm zurückholten. Er schlug zu, so fest er konnte, traf aber schlecht, und die beiden kräftigen Männer hielten ihn ohne jede Mühe fest, bis er zur Besinnung kam.
    Nein, ich weiß nicht, warum ich mich umgedreht habe, wiederholt Hjalti, es war schon schwer genug, nach vorn zu gucken, aber erst recht, den Kopf zu drehen, der verflixte Eiswürfel ist an den Klamotten festgefroren, und ich musste also den ganzen Körper drehen, um nach hinten zu gucken, aber vielleicht hast du einen Schutzengel, denn als ich mich umgedreht hatte, warst du verschwunden, nur wir beide zogen den Sarg, von dir war nicht die leiseste Spur zu sehen. Noch ein paar Schritte mehr, und wir wären zu weit weg gewesen, um dich wiederzufinden. Was hier zu Boden geht, geht verloren und verschwindet, es verschwindet spurlos und stirbt.
    Jens zerrt einen Tabaksbeutel hervor. Seine Hand verschwindet in den Kleidern und kommt mit diesem Geschenk des Himmels, wie Hjalti es ausdrückt, wieder zum Vorschein.
    Hast du das die ganze Zeit über versteckt gehalten, Satan!
    Ja, für Notlagen, sagt Jens trocken, und beide nehmen eine ordentliche Prise in jedes Nasenloch und seufzen vor Seligkeit. Dann befehlen sie dem Jungen, auch zu schnupfen, und zwar mit solchem Nachdruck, dass er sich nicht mehr drücken kann.
    Hast du noch nie Tabak genommen?, fragt Hjalti entrüstet, als er sieht, wie ungeschickt sich der Junge mit der Tabaksdose anstellt und anschließend zwei oder drei Minuten lang ununterbrochen niest.
    Besser bekommt man dich nicht wach, stellt Jens fest und steckt die Dose wieder ein.
    Dich hat wirklich der Herrgott erschaffen, sagt Hjalti nach der Prise erfrischt und haut dem Landbriefträger auf den Rücken.
    Sie müssen laut sprechen, denn es gibt nur wenig Schutz vor dem Wind, der um sie herum pfeift, immerhin hält der Sarg ihn genug ab, dass sie dahinterhocken und sich ein wenig vom Sturm ausruhen können, diesem durchsichtigen Ungeheuer.
    Was glaubst du, wie weit es noch ist?, fragt Jens.
    Weiß der Teufel! Zwei Stunden, zwanzig Stunden, antwortet Hjalti. Das Wichtigste ist, am Leben zu bleiben, und mit Tabak in der Nase ist alles möglich. Wie viele Prisen hast du noch?
    Jens: Eine pro Mann.
    Lieber krepier ich, als das Zeug noch mal zu nehmen, sagt der Junge.
    Das gefällt mir, lobt Hjalti. So äußert sich ein Mann. Wer so redet, ist am Leben. Aber ein bisschen lasst uns noch sitzen bleiben und den Schutz genießen, den Ásta uns bietet.
    Verdammt unzuverlässiger Schutz, knurrt der Junge.
    Bei Ásta gibt es keine Unzuverlässigkeit, erwidert Hjalti. Ich komme so langsam dahinter, dass man auf dieser

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