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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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einen Sarg gelehnt, draußen tobt ein Schneesturm mit Orkanstärke, und es ist Ende April. Das Ganze ist so absurd, verrückt und ergreifend, dass sogar Jens an einer Stelle unwillkürlich einfällt, eines der zu Herzen gehenden Lieder packt ihn doch, er summt kurz mit, bricht dann aber schnell ab und hört nur noch stumm zu. Die beiden anderen singen und vergessen dabei sogar den Hunger. Sie singen sämtliche Weihnachtslieder, die sie kennen. Danach muss Hjalti pinkeln. Der Junge holt tief Luft und riecht den Duft von Geräuchertem. Erst glaubt er, die Erinnerung an den geräucherten Lammschinken zu Weihnachten sei so intensiv, dass er den Braten riechen könne, aber dann schnuppert er wie ein Hund. Er dreht den Kopf von einer Seite zur anderen und zieht prüfend die Luft ein.
    Riecht ihr nicht den Räuchergeruch?, fragt er. Ich meine, riecht es hier nicht nach Rauch?
    Räuchergeruch, hier oben? Was für ein Unsinn, sagt Hjalti, der fertig ist, fängt aber gleich an zu schnuppern. Jens auch.
    Hol mich der Teufel, murmelt Jens und richtet sich plötzlich auf, er ist etwas blass geworden, und Hjalti geht mit der Nase immer näher an den Sarg.
    In Dreiteufelsnamen, das ist der Geruch von geräuchertem Lammfleisch! Er weitet die Nasenflügel, sein Mund steht halb offen, sein Magen kollert und knurrt, dann fährt er vom Sarg zurück, soweit es in der engen Höhle überhaupt möglich ist. Jens und der Junge weichen zur Seite, der Postbote stößt mit der Schulter an die Höhlenwand, wodurch einige Placken Schnee auf ihn und Hjalti herabfallen, der ein paar saftige Flüche vom Stapel lässt. Es tut dem Mann gut, zu fluchen, fast ebenso gut wie zu beten, manchmal ist es sogar viel besser. Der Junge schließt die Augen und hört im gleichen Moment ein leises, kaltes und spöttisches Lachen in seinem Kopf. Hast du etwa Hunger?, fragt die Stimme.
    Es ist nicht gut, noch länger hierzubleiben, sagt Jens.
    Immer noch besser, als weiterzugehen, meint Hjalti.
    Scheißwetter!, schimpft der Junge.
    Vor der Schneehöhle ist es Nacht.
    Der Junge wiegt den Oberkörper vor und zurück, ruft sich Bruchstücke von Gedichten und Geschichten ins Gedächtnis, Jens erweitert den Höhleneingang, als der Räuchergeruch zunimmt, aber dadurch kommt der Wind herein und nutzt augenblicklich die Gelegenheit, die Männer mit Schnee zu überschütten. Jens stopft die Öffnung wieder zu; den Geruch hält man besser aus als den Schnee.
    Seit drei Jahren habe ich keine Frau mehr gehabt, eröffnet Hjalti unvermittelt. Morgen, nein, es ist ja schon morgen, also heute ist es genau elfhundert Tage her.
    Elfhundert Tage, wiederholt Jens.
    Das ist grauenhaft für einen gesunden Mann, sagt Hjalti. Kein Wunder, dass man irgendwann die Schafe mit anderen Augen sieht.
    Wo war es denn das letzte Mal?, erkundigt sich Jens. Jetzt kann er auf einmal sprechen, jetzt, wo der Junge nicht weiß, was er sagen soll.
    Hjalti: In Sléttueyri, wo wir jetzt hinwollen. Die gute Bóthildur, Haushälterin beim Doktor und seiner Frau. Beim Geschwänzten, wir waren wie von Sinnen. Wir hätten uns bald gegenseitig aufgefressen. Was für ein Engel, diese Frau! Stark wie ein Stier, schön wie ein Sommervogel.
    Hast du sie seitdem nicht wiedergesehen?, fragt der Junge.
    Doch, letztes Jahr, aber nur kurz und unter Leuten.
    Und weiter?, fragt der Junge.
    Nichts weiter, sagt Hjalti, und so soll es auch sein. Mehr darf nicht sein.
    Warum nicht?, wundert sich der Junge.
    Du bist noch so jung, antwortet Hjalti. Ich habe doch nichts außer diesen Händen, und man muss den Schnaps vor mir verstecken, sonst werde ich zum Tier. Ich würde uns beide zugrunde richten. Besser, gute Erinnerungen aufzubewahren, als sie mit weiteren Treffen kaputt zu machen.
    Jens rutscht nach vorn, um sich wieder am Eingang zu schaffen zu machen, er bastelt lange daran herum. Ihnen ist kalt. Eis und Schnee auf ihren Kleidern sind längst geschmolzen und zu Kälteschauern geworden. Sie bewegen sich, so gut es geht in der Enge, und atmen den intensiven Räucherduft ein, der aus dem Sarg aufsteigt. Sobald ihre Aufmerksamkeit nachlässt, fangen Hjalti und der Junge wieder an, Weihnachtslieder zu summen, erst der eine, dann der andere, manchmal singen sie ein Lied auch vollständig bis zum Ende, werden lauter dabei, und die Töne dringen nach draußen in den Sturm, der sie zerfetzt. Jens sagt nichts mehr und schaut nur schwermütig vor sich hin.
    Weihnachtsstollen mit Rosinen, sagt Hjalti, nachdem sie »Schenkt den Kindern

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