Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
verschwindet im Schneetreiben und kommt mit einem halben Berg zurück, kaum weniger als siebzig Kilo schwer. Er legt ihn ab und verschwindet, um den nächsten zu holen, er schuftet, um sich warm zu halten, rackert sich ab, um wieder zu einem Menschen zu werden.
Pass auf, dass du das Boot nicht zertrümmerst, sagt der Junge, als Jens mit dem zweiten Felsbrocken zurückkommt.
Nein, nein, sagt er und legt den Brocken vorsichtig ab wie ein kleines Steinchen. Als er sich aufrichtet, sehen sie sich ganz unvorbereitet kurz in die Augen, und der Briefträger sagt: Danke.
Ach, das war doch nichts, sagt der Junge.
Doch, das war durchaus etwas.
Weshalb bist du über Bord gesprungen?
Ich dachte, wir wären angekommen, sagt Jens. Ich vertrage das Meer nicht.
Du bist pitschnass. Wir müssen zusehen, dass du ins Trockene kommst, sagt der Junge. Sie legen die letzten Steine ins Boot, Jens beeilt sich, so will er nicht sterben, nass von Meerwasser und Blamage; er schnappt sich zwei Posttaschen, der Junge die dritte und den Lederbeutel mit dem Proviant und den trockenen Sachen, den er sich auf den Rücken bindet. Dann gehen sie hinein ins Schneetreiben, auf der Suche nach einem Haus.
Es gibt nur zwei Richtungen, nach links oder nach rechts. Wenn das Leben doch immer so einfach wäre. Geradeaus geht es nicht, da ragt eine felsübersäte Bergwand auf, und oben liegt ein ungnädiges Plateau, zurück kommen sie auch nicht, denn da liegt das Meer. Sie gehen nach links, nach Nordwesten, auf die kleine Ansiedlung zu, wo es ein paar Fischerhütten und Trockenschuppen geben wird, sogar eine kleine Kapelle, denn was ist der Mensch ohne Gott, oder mehr noch, was ist Gott ohne den Menschen? Außerdem wartet dort ein Pferd, das dem Hilfsbriefträger gehört.
Wahrscheinlich sind es etwa zehn Kilometer bis zu dem Ort, lässt sich der Junge hinter Jens hören. Wind und Kälte pfeifen, der Schneefall wird noch dichter, außerdem wird es langsam Abend. In den letzten drei Wochen hat der Junge oft am Dachfenster gestanden und zur Winterküste hinübergesehen. Aus der Ferne sah sie aus wie ein einziger zusammenhängender Gletscher, und er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Menschen dort freiwillig wohnen. Aber was ist freier Wille, welcher Mensch ist schon frei? An der dreißig Kilometer langen Küste wohnen zirka dreihundert Menschen, dreihundert menschliche Wesen, die sich mit ihrem Vieh auf grasbewachsenen Absätzen unter steilen Bergwänden festgebissen haben und überwiegend vom Meer leben. Die Berge sind das ganze Jahr über weiß, der Schnee auf ihnen schmilzt niemals ganz, seit siebenhundert Jahren nicht, selbst in den besten Sommern bleibt er in Mulden und Furchen liegen, bis der Herbst mit Neuschnee kommt.
Und jetzt ist er hier unterwegs.
Geht oder fällt beinah auf dem vereisten Uferstreifen.
Sie gehen höher hinauf, lassen Eis und Glätte zurück, müssen dafür aber durch den Schnee waten. Jens stapft voraus, er marschiert zügig, will sich die Kälte aus dem Leib laufen. Ohne langsamer zu werden, zieht er die Taschenflasche hervor und nimmt zwei kräftige Schlucke, dann hält er sie nach hinten ins Schneetreiben, und der Junge muss laufend zu ihm aufschließen. Jens nimmt einen dritten Schluck, wird aber das Schaudern und die Kälte nicht los, die seine Muskeln steif werden lässt und nach dem Herzen greift. Schnell wirft er einen Blick zur Seite, wo im Schneefall das Meer stöhnt und wo Ertrunkene im gleichen Schritt wie sie über den Meeresboden stampfen und sich das Salz von den Lippen lecken. Der Junge folgt und vermisst Bárður, aber man kann es sich nicht immer erlauben, zu trauern und zu weinen, manchmal muss man einfach am Leben bleiben, darauf muss man sich konzentrieren und auf nichts anderes, man muss den Tod auf Abstand halten, diesen dunklen Schemen, der ständig auf uns lauert. Ich will nicht an den Tod denken, ich will mich auf das Gehen konzentrieren, darauf, mich aufrecht zu halten und nicht zu fallen, denkt er und ist schon fast über Jens gestolpert, der auf einmal wie hingestreckt vor ihm im Schnee liegt. Schweigend rappelt er sich auf und stampft weiter, schneller noch, vielleicht in der Hoffnung, die Schwäche abzuschütteln, die er nach seinem Fall verspürt, als wäre etwas von seiner Kraft und seinem Willen am Ort des Sturzes liegen geblieben. Aber bald fällt er wieder, kommt auf die Füße, geht, fällt zum dritten Mal und bleibt liegen, die Muskeln gehorchen ihm nicht mehr. Der Junge hilft ihm
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