Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Takt halten, dann hält das Boot Fahrt, wir kommen voran und … es wird kein Brecher über uns zusammenschlagen. Bloß nicht aufhören! Er hat sagen wollen: Dann schlagen die Brecher nicht so schnell über uns zusammen, aber ihm ist noch rechtzeitig klar geworden, dass dieses »nicht so schnell« die Angst seines Begleiters vermutlich noch vergrößert hätte. Der sagt gar nichts, sondern rudert und richtet sich nach dem Rhythmus des Jungen. Die beiden bewegen sich vor und zurück wie Pendel einer Uhr, wenn sie damit aufhören, bleibt die Zeit stehen und sie werden sterben. Das Boot schiebt sich vorwärts, schräg gegen den unermüdlichen Wind, über das aufgewühlte Meer. Der Junge rudert konzentriert, die Angst des Postboten, dieses stummen Riesen, gibt ihm Selbstvertrauen; er gewinnt an Stärke, er vergisst die schwarze Tiefe unter seinen Füßen, obwohl sie viele Ertrunkene birgt und nichts dagegen hätte, noch zwei weitere hinzuzufügen. Das Leben des Menschen ist ein undeutliches Flackern in der Atmosphäre, es ist so schnell vorbei, dass die Engel es übersehen, wenn sie mit den Augen zwinkern. Jens stiert vor sich hin, bewegt sich wie eine Maschine und lässt den Blick nicht vom Rücken des Jungen, um so das rabenschwarze, unersättliche Meer auszublenden. Ihre Wollfäustlinge sind triefnass, auch ihre Gesichter sind nass vom Meerwasser und spannen unter dem Salz. Sie rudern, beugen sich vor und ziehen durch, das Kreuz schmerzt, sie legen sich in die Riemen. Vergeht Zeit? Kommen sie überhaupt von der Stelle? Der Junge ist ziemlich erschöpft, als er sich noch einmal verlocken lässt, einen Blick über die Schulter zu werfen, und da traut er seinen Augen kaum, sie nähern sich dem jenseitigen Ufer, es kann nicht wahr, muss eine Täuschung sein, ein frommer Wunsch. Kurze Zeit später sieht er sich wieder um, und das Ufer ist noch näher gerückt, allerdings sind sie ziemlich weit abgetrieben worden. Sie wollten bei Berjadalseyri landen, einer winzigen Ansammlung von Fischerhütten, werden jetzt aber noch gute zehn Kilometer marschieren müssen, um sie zu erreichen – sofern sie an Land kommen, heißt das. Ein Brecher überspült das Boot, Jens hält röchelnd den Atem an, und im Handumdrehen steht fünf Zentimeter hoch das Wasser über den Planken. Jens beginnt zu würgen, er bricht, ohne die Ruder loszulassen, er erbricht sich auf Schoß und Schenkel. Als der Junge das nächste Mal zurückblickt, sind sie nicht mehr weit vom Land entfernt, wir können es schaffen, denkt er, und in diesem Moment fängt es an zu schneien. Zuerst sind es nur ein, zwei Schneekörner, die ihn wie aus Versehen im Gesicht treffen, dann ist die ganze Luft auf einmal weiß, dahinter aber liegt das Ufer, erwartet sie wie eine schützende Umarmung.
Wir sind gleich da, wir haben es eigentlich schon geschafft, Teufel noch mal!, brüllt der Junge voller Freude hinter sich, und da fährt Jens zusammen, zieht die Ruder ein und springt über Bord, alles in einer zusammenhängenden Bewegung.
Bist du verrückt?, schreit der Junge, als er mitbekommt, was vor sich geht, er wirft sich zur Seite, steckt den Arm in die kaltgrüne See und erwischt gerade noch den Anorak des Postboten, der schon auf dem Weg hinab zum Meeresgrund ist, er zieht ihn nach oben und hält ihn fest, bis sich Jens spuckend und nach Atem ringend am Bootsrand festklammert, dann greift er nach den Rudern und rudert los. Verzweiflung verleiht Flügel. Er fühlt, wie neue Kraft in seine Arme strömt, und Jens ruft, als seine Füße Grund spüren; er lässt los und plantscht und krabbelt an Land, taumelt, nass bis auf die Knochen, das hart gefrorene, glatte Ufer hinauf, richtet sich auf und schließt die Augen, um es intensiver zu genießen, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Dann lässt er sich auf alle viere nieder und kotzt.
Sie sind gerettet. Sind sogar an einem halbwegs günstigen Punkt gelandet, an dem es nur wenige größere Steine und Felsblöcke gibt, der Junge schafft es ohne Schwierigkeiten, den Kahn aufs Ufer zu ziehen. Die Anstrengung tut gut, es tut gut, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, das Meer endlich los zu sein, das fast im Schneefall verschwunden ist. Jens kommt auf die Füße. Er richtet sich auf. Er ist groß, breitschultrig und stark, aber er zittert. Die Kälte hat seine Haut erreicht, und unter ihr schlägt ein Herz, das Kälte schlecht verträgt. Sie beeilen sich, das Boot zu sichern, tragen Steine hinein, um es zu beschweren. Jens
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