Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
schlaflosen Pfarrer auf verlorenem Posten längst vergessen oder verworfen hat. Doch Jens ist nicht nur müde, er ist vollkommen erschöpft, die Kälte aus dem Meer steckt noch immer in ihm und saugt ihm das Mark aus den Knochen. Jens schließt die Augen. Er versucht, den leicht offen stehenden Mund der Magd und die Berührung ihrer Hände zu vergessen, es gelingt ihm auch, nicht gleich, aber bald, und dann kommt er zur Ruhe und schläft ein. Es ist Nacht.
Mit der Nacht kommt der Schlaf, kommen Träume, kehrt Stille ein; der Sturm aber lässt noch nicht nach, er rüttelt weiterhin am Haus, es ächzt und knackt, der Schnee weht und wirbelt durch die halbdunkle Aprilnacht wie weiße Gespenster. Die Menschen kehren in ihre Träume zurück. Träume sind die andere Seite des Lebens, alles hat mindestens zwei Seiten, der Mond, ein Stein, das Glück, das Vermissen und die Untreue. Anna schließt die Augen, ihre sie im Stich lassenden Augen, taucht in einen Traum und sieht darin jede Scharte, jede Felsnase im Maríufjall. Sie lächelt im Schlaf. Warum bereitet es mir keine Freude mehr, dieses Lächeln zu sehen, denkt Kjartan manchmal, wenn er schlaflos auf der Bettkante sitzt und seine Frau betrachtet. Was hat das Leben mit mir gemacht? Die Magd, die sich um Jens gekümmert hat und mit Namen Jakobína heißt, legt sich in einem der drei Betten im Zimmer zurecht, es steht dem von Jens genau gegenüber, und sie schaut auf seinen Kopf, im Halbdunkel sieht sie ihn natürlich nicht ganz deutlich, aber es reicht, sie lässt ihre Hand an sich hinabgleiten und die Finger spielen.
Der Junge, der bei dem Landarbeiter schlafen soll, sitzt noch unten im Arbeitszimmer des Pfarrers, er schielt fast vor Müdigkeit, aber Kjartan will ihn noch nicht loslassen. Er ist der geistliche Hirte einer dünn besiedelten, weit abgelegenen Dreihundert-Seelen-Gemeinde, es ist eine Welt, die monatelang unter einer dicken Schneedecke dahindämmern kann. In den langen Wintermonaten verirrt sich kaum einmal jemand hierher, außer vielleicht den Leuten aus mehr oder weniger weit entfernten Ecken der Gemeinde, die ihm den Leichnam eines verstorbenen Verwandten oder eines bei ihnen untergebrachten Fürsorgefalls bringen, meist ein alter Mensch, der kaum einen Namen, geschweige denn ein Andenken hinterlässt. Aber es macht keinen Unterschied, sein Mitarbeiter muss ein Grab ausheben, sich durch den Frostboden hacken, der manchmal tief gefroren ist, und dann fällt es ihm schwer, die Verstorbenen nicht lauthals zu verfluchen für die Frechheit, ausgerechnet in dieser Jahreszeit zu sterben. Sonst kommt niemand, bis auf den Hilfsbriefträger Guðmundur, doch auch wenn er ihnen Zeitungen, Zeitschriften und Briefe bringt, ist er selbst ein eher schlichter Mensch, der immer nur Alltagsphrasen wiederkäut, rein gar nichts von Literatur versteht und keinen tiefen Gedanken fasst. Einmal hat Kjartan versucht, sich mit ihm über Sören Kierkegaard zu unterhalten, und da hätte er ebenso gut in den Stall gehen und mit den Schafen oder noch schlimmer mit den Böcken reden können, die bloß herumblöken und sich auf die Brunst freuen.
Ein gefährlicher Mann, Kierkegaard, sagt Kjartan zum Jungen, der es trotz seiner Müdigkeit nicht lassen kann, ein Buch nach dem anderen in die Hand zu nehmen, und gerade versucht hat, sich in den Anfang einer Schrift dieses Dänen einzulesen.
Warum ist er gefährlich?, fragt er und hebt den Blick aus dem Buch.
Er will uns verändern, er lässt uns zweifeln, er drängt uns, die Welt neu zu denken, und solche Menschen hat man schon immer für gefährlich gehalten. Wir wollen keine Herausforderung, sondern das angenehm Vertraute, wir wollen keine Anreize, sondern Vergessen, keinen Stachel, sondern Tiefschlaf. Darum geben sich die Leute mit Reimgedichten ab und nicht mit Literatur, darum zweifeln sie nicht mehr als die Schafe. Aber du bist sichtlich anders. Du greifst nach Büchern, du bemerkst sie zumindest und schaust sie dir an. Du kannst einen Menschen immer daran erkennen, wonach er sucht und was er anschaut. Ich vermute, dein Nachdenken endet nicht bei Schnupftabak und Zoten. Kjartan lehnt sich zurück und blickt an die Decke. Wenn sein Blick durch Holz ginge, könnte er direkt über sich die Magd sehen mit ihren Händen und Gedanken. Der Junge sitzt auf einem Stuhl in der Ecke und denkt an María von der Winterküste, wie sie ihn angesehen hat und an ihr Verlangen nach Büchern. Er versucht ein bisschen zu lesen, aber die Buchstaben
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