Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
schließen, als er in die uralten Augen des Pferds blickt. Es rührt ihn etwas an, tief in ihm erwacht etwas. Ich schicke dir gleich jemanden, murmelt er der Stute zu und schließt dann entschuldigend die Tür.
Sicher die Frau des Pastors, denkt der Junge und sieht, wie sich Anna zu ihm vortastet, sie hält die Arme vorgestreckt, als hätte sie Angst, hinzufallen, oder als würde sie sich im Dunkeln bewegen oder als fürchtete sie die äußerste Kante am Ende der Welt.
Ja, und das Pferd friert auch, sagt der Junge, der gehört hat, dass der Pfarrer die Tür schloss.
Wir kümmern uns schon um das Pferd, sagt Kjartan auf der Treppe, er will nach oben, um einen Arbeiter zu holen; der kommt aber schon die Stufen herab, er ist in mittlerem Alter, klein, aber kräftig, noch damit beschäftigt, sich anzuziehen, sein Gesicht ist noch ganz verschlafen. Wortlos geht er hinaus, um das Pferd zu versorgen. Er führt die Graue in den Stall, holt ihr Wasser und Heu, und schon ist sie zufrieden und ohne Sorgen.
Ich heiße Anna, sagt die Frau zu den Gästen und tritt ganz dicht an den Jungen heran, die Augen hat sie weit aufgerissen, als staune sie über die Welt wie ein kleines Kind; ihr Gesicht ist rund, die Nase sehr klein. Auf den ersten Blick ist sie keine Schönheit, und die weit aufgerissenen Augen lassen sie fast etwas dümmlich aussehen, aber da ist etwas in ihrer Tiefe, das dem Jungen das Gefühl gibt, sie würde tief in ihn hineinblicken, ihn auf Herz und Nieren prüfen. Er verharrt reglos auf der Stelle, wagt kaum, Luft zu holen oder zur Seite zu blicken, atmet ihren warmen und angenehmen Atem ein und nimmt den Pfarrer hinter seiner Frau wahr; er lehnt an der Wand und verfolgt alles mit ausdrucksloser Miene. Man hört jemanden nach unten kommen und im Haus verschwinden.
Ich sehe so schlecht, entschuldigt sich Anna. Manchen ist es natürlich unangenehm, eine alte und fast blinde Frau so nah an sich heranzulassen, aber ich finde Wahrheit wichtiger als Höflichkeit. Du brauchst dich übrigens für dein Gesicht nicht zu schämen, sagt sie noch und kniet sich dann zu Jens, betastet ihn, fühlt die Kälte, fährt unter seine Kleider, um die Haut zu fühlen, und gibt dann Anweisungen. Sie spricht in kurzen, glasklaren Sätzen und sagt nur, was gesagt werden muss. So geht alles schnell und ohne Zeitverlust, und nur wenig später sitzt der Junge am Kamin, hat all seine Kleidungsstücke gegen andere gewechselt, die ihm gereicht worden sind, und schlürft heißen Kaffee, während Jens ausgezogen in ein Bett gepackt wurde. Er war noch auf dem Fußboden zu sich gekommen und hatte es geschafft, ohne fremde Hilfe nach oben zu krauchen, aber viel mehr ging nicht, wieder halb bewusstlos liegt er im Bett, erhitzte Steine hat man ihm dazugepackt und wie warme Gedanken mit unter die Decke gelegt. Dann kommt eine Kattfischsuppe, heiß und so kräftigend, dass sie Tote aufwecken könnte.
Ich bin nicht so schwach, dass ich nicht allein essen könnte, knurrt Jens und nimmt der Magd die Schüssel aus der Hand. Seine Stimme klingt, als käme sie durch raue See vom Meeresgrund herauf. Die Magd bleibt auf der Bettkante sitzen und betrachtet diesen großen Mann, den ihnen Nacht und Sturm ins Haus geweht haben, sein dickes, helles Haar, den wallenden Bart, die leicht dunklen Augen und die mächtige Nase. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt, nachdem sie ihm die kalten Sachen ausgezogen hat, kalt und steif gefroren, und nachdem sie ihm Leben und Wärme in die Beine geknetet hat. Lange musste sie sie massieren, Jens hatte etwas dazu gebrummt, junge, schwielenbesetzte Hände strichen seine Beine hinauf bis in die Leistengegend, und in den drei, vier Minuten, die sie allein im Zimmer waren, konnte sie auch berühren, was sie schon immer einmal anfassen wollte; der Mann war so gut wie bewusstlos, und anfassen ist doch keine Sünde, es kann doch wohl kaum Sünde sein, nach dem Leben zu fühlen, sie tat es aus reiner Neugier und nichts anderem. Er war so stark ausgekühlt, dass ihre Berührungen lange keinen sichtbaren Erfolg zustande brachten. Man macht schon eine Menge durch. Jens ist mit der Suppe fertig, reicht ihr die leere Schüssel zurück, bedankt sich, und ihre Blicken treffen sich für einen Augenblick.
Jetzt kann ich es gut gebrauchen, mich etwas auszuruhen, sagt er zu Kjartan, der in der Tür steht und zusieht und darauf gehofft hat, mit dem Briefträger reden zu können, Neuigkeiten aus der Welt zu erfahren, einer Welt, die einen
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