Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
verschwimmen, die Wörter verlieren ihren Sinn. Kjartan schlürft mit Bedacht an seinem Whisky, es ist seine letzte Flasche, seit vielen Wochen geht er höchst sparsam mit ihr um, denn es ist völlig unklar, wann er das nächste Mal in den Handelsort kommen wird, der Winter scheint kein Ende zu nehmen, die Menschen haben seit Wochen kaum ihre Nachbarn auf dem nächstgelegenen Hof besuchen können; die Hälfte der Kirchspielbewohner könnte tot zu Hause liegen, ohne dass es jemand mitbekommen würde, eine andere Gesellschaft als die Hausgenossen auf dem eigenen Hof gibt es also nicht. Aber es ist nun einmal, wie es ist, und keineswegs ungewöhnlich, außerdem sind die Leute in Ordnung, immer noch bessere Menschen als er selbst, um ein Vielfaches besser sogar, aber sie haben es leider nicht mit der Literatur, sie haben keine Kultur, im besten Fall schnuppern sie ohne eigene Gedanken ein wenig an den Sagas herum, der Rest sind zusammengestoppelte Strophen und seelentötende Reime. Die Tage sind vergangen, die Nächte sind gekommen, und man hört nichts als das Heulen des Sturms, das Knacken und Stöhnen des Frosts und ein Jaulen, das aus weiter Ferne zu kommen scheint, dunkel, schmutzig, vielleicht ein Eisbär oder der Teufel, der nach seiner Seele ruft. Mein Leben ist nicht schön, was habe ich falsch gemacht, denkt er und schaut die Flasche an. Ich trinke zu viel, ich missachte Gottes Wort, ich verfluche das Leben, und obendrein denke ich zu oft und zu unanständig an andere Frauen. Da ist es wieder, denkt er und zuckt zusammen. Hast du das auch gehört?, fragt er den Jungen.
Was?
Ein Jaulen draußen.
Ein Jaulen? Draußen?
Ja, gerade eben. Von da ist es gekommen, sagt Kjartan und zeigt hinter sich.
Ich höre bloß den Wind, sagt der Junge.
So, nur den Wind. Tja, schon recht. Wie schön ist doch die Jugend!, sagt Kjartan. Wir werden rein geboren, entfernen uns aber mit den Jahren immer weiter von Gott. Meine Seele ist ein schwarzer Stein. Ein schwarzer Stein, junger Freund, sagt er und kippt unüberlegt das Glas. Das war ein großzügiger Schluck, der noch zwei Stunden hätte reichen sollen, und jetzt ist er weg; das hat man davon, wenn man nicht aufpasst, die Flasche ist bald leer, ihr Boden ist gerade noch bedeckt. Die Welt ist ein dunkler Ort.
Ich habe mir alle Mühe gegeben, mein Leben zu verpfuschen, sagt er. Der Junge richtet sich auf, sieht all die Bücher hinter dem Pfarrer und versteht die Welt nicht mehr. Wer über Dichtung und Wissen verfügt, ist ein glücklicher Mensch, hat Bárður gesagt, nachdem sie Gíslis Artikel über Goethe und die unglückliche Liebe zum zehnten Mal gelesen hatten.
Der Wind bläst durch die Nacht, und Kjartan redet. Es tut gut, in Anwesenheit eines anderen Menschen laut zu reden, Worte brauchen Ohren, und wenn der Zuhörer ein bisschen was begreift vom Leben, ist das kein Nachteil.
Ich begreife gar nichts, ich habe keine Ahnung, hat der Junge widersprochen.
Doch, doch, Augen lügen nicht, sie können gar nicht lügen, und deine Antwort zeugt von Zweifeln, und wer zweifelt, ist irgendwohin unterwegs. Du bist jung, du hast noch alles vor dir, auch alle Fehler, alle Triumphe. Sieh mich genau an, dann weißt du, wie du nicht werden solltest … Wenn’s nur noch etwas mehr Whisky gäbe. Kjartan streicht über zwei Papierstapel auf dem Tisch, der eine enthält Übersetzungen eines französischen Schriftstellers, der andere Schnipsel aus der Geschichte des Lebens.
Schnipsel über das Leben hier, sagt Kjartan und erzählt dem Jungen anschließend von Svörtustaðir, erzählt vom Glück und von den Küssen, es lässt die Zeit herumgehen, während um das Haus Sturm und Nacht herrschen. Schließlich seufzt er und bittet den Jungen, ihm die Posttasche zu reichen, die die Post für die Bewohner seines Kirchspiels enthält.
Wollen sehen, was die Welt uns schickt, sagt er und packt die Tasche aus. Er leert sie völlig, und damit gibt es schon mal eine Tasche weniger zu schleppen. Als er das Päckchen von Gísli entdeckt, hellt sich Kjartans Miene auf. Er betastet es so behutsam, dass man fast von Liebe sprechen könnte, und oben schläft Anna, die im Traum alles sehen kann, sie ist seit vielen langen Jahren nicht mehr so berührt worden. Vorsichtig legt er das Päckchen zur Seite und sieht die anderen Dinge durch, die aus der Tasche zum Vorschein gekommen sind. Zeitungen gibt es da und ein paar wenige Sendungen an die Leute in seiner Gemeinde, ein Brief von einem alten Freund
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