Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
blickt in Richtung der Magd, ihre Augen zwei angelaufene Perlen. Der Junge schluckt brühheißen Kaffee, um die Müdigkeit auszubrennen. Er hätte gern noch länger geschlafen. Jens sitzt vornübergebeugt da und schaut erst auf, als Jakobína mit dünnem Fladenbrot und Butter erscheint. Sie ist groß, mit gebieterischen, kraftvollen Bewegungen und dunklen Augen, die denen des Postboten begegnen. Sie stellt die Platte zwischen ihnen ab und streicht dabei wie unabsichtlich über seine Hand, die auf dem Tisch liegt. Eine Hand, die eine andere auf solche Weise berührt, will etwas mitteilen. Jens weiß das, aber er wagt nicht zu antworten. Anna sieht nicht, was zwischen den beiden vorgeht, sie sieht überhaupt nur noch so wenig mit diesen angelaufenen Perlen, und Kjartan scheint seinen Gedanken nachzuhängen.
Es wäre kompletter Unfug, jetzt aufzubrechen, sagt Jakobína und nimmt Jens gegenüber am Tisch Platz. Es ist ziemlich düster draußen, die Aussichten sind nicht gut. Wir werden euch helfen, die Zeit zu vertreiben, uns wird schon etwas einfallen, was man hier unternehmen kann. Sie lächelt, ohne den Blick von Jens zu wenden, der allerdings wegschaut, als wäre er in anderen Gedanken. Er streckt sich und richtet sich plötzlich auf:
Wir bedanken uns für alles, aber jetzt gehen wir.
Was für eine Dummheit, sagt Kjartan.
Aber Jens lässt sich nicht umstimmen. Er ist groß, breitschultrig, hart, seine großen Hände halten die Kaffeetasse, graue Augen über einer kräftigen Nase. Jakobína sieht ihn lange an, das nimmt sie sich heraus. Ihre Hände liegen auf dem Tisch und halten noch die Erinnerung an seine Nacktheit in der Wölbung ihrer Handflächen.
Nun gut, sagt Kjartan und seufzt, dann brecht ihr eben auf.
Das ist doch gegen jede Vernunft, widerspricht Anna.
Ich verstehe nichts von Vernunft, sagt Jens.
Und ich hätte gedacht, du wärest klug genug.
Man tut nur, was man tun muss.
Kjartan: Dagegen lässt sich wenig einwenden.
Anna: Davon bin ich nicht überzeugt. Würdest du den beiden bitte Proviant für unterwegs fertig machen, Jakobína.
Um ehrlich zu sein, ich hätte euch gern noch hierbehalten, sagt Kjartan. Die Eintönigkeit hat schon ganz andere fertiggemacht als mich. Glaubt mir, es ist kein Spaß, hier bei schlechtem Wetter unterwegs zu sein. Es ist doch noch tiefer Winter.
Er reibt sich die Augen, wie um die Müdigkeit wegzuwischen, seine andauernde Müdigkeit, den Schlafmangel. In den Morgenstunden hat er endlich für gerade mal zwei Stunden die Augen zugemacht. Er ist dann tief eingeschlafen, bis ihn plötzlich etwas geweckt hat, wie ein kalter Messerstich in die Herzgegend. Natürlich hat sich das Unglück, das schlechte Gewissen in Erinnerung bringen wollen, er hat dem Rektor Gísli davon geschrieben und ist in der vergangenen Nacht über dem Brief fast eingeschlafen.
Meine Seele ist von Seepocken übersät und wird bald in noch mehr Düsternis untergehen. So verhält es sich nun einmal. Hast du diesen Norweger gelesen, Knut Hamsun, über den mein Kollege im Osten in seiner ganzen Überheblichkeit geschrieben hat? Ich habe seit Wochen nicht mehr ordentlich geschlafen. Es würde mich nicht überraschen, wenn es Gottes Strafe für mich wäre, und ich hätte sie auch verdient. Aber was ist das für ein Junge, der mit dem Postboten gekommen ist? Hat Gott ihn geschickt oder der Böse? Du hättest hören sollen, was er sagte: Ich dachte, unter so vielen Büchern könne man gar nicht unglücklich sein. Gísli, was machen wir nur aus unserem Leben? Und aus uns selbst? Ich verhalte mich Anna gegenüber nicht anständig; es ist wer weiß wie lange her, seit ich sie das letzte Mal in den Arm genommen habe. Manchmal kommt mir ihr Körper abstoßend vor, und ihr unbegreiflicher Optimismus macht sie entweder zu einem Idioten oder zu einer Heiligen, und ich ertrage offenbar weder das eine noch das andere. Ach, ich habe wahrlich schönere und bessere Knechte als mich gesehen, mein Bester!
Sie greifen noch einmal zu. Sie sind zwar satt, stopfen sich aber so weit es geht voll.
Esst jetzt, sagt Anna, und ihre beschatteten Augen irren durch den Raum. Ich verstehe allerdings nicht, wieso ihr unter allen Umständen loswollt.
Männer tun, was sie tun müssen, sagt Kjartan. Das haben sie immer getan.
Anna: Das stimmt allerdings! Männer sind schon immer weggegangen, sie haben es eilig, zu sterben und Frauen und Kinder im Elend zurückzulassen. Sie vergessen, dass das Leben schön ist und man in erster
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