Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Kjartans, der eine Pfarre im Osten bekleidet.
Eingebildeter Bengel, knurrt er – die Anwesenheit des Jungen hat er völlig vergessen – und legt, nicht gerade aufgrund seiner großen Erwartung, einen Brief zur Seite, der von seinem Sohn kommt. Dann lebt er wieder auf, als er zwei Stellenausschreibungen für zu besetzende Pfarrstellen entdeckt, die eine auf Staður im Steingrímsfjörður, die andere auf Höfði. Unwillkürlich richtet er sich im Sitz auf, sinkt aber ebenso schnell wieder zusammen, als er weiterliest und feststellt, dass die Bewerbungsfrist in beiden Fällen in knapp einem Tag ausläuft. Solche Offerten erreichen nur selten und meist zu spät dieses Ende der Welt. Steif und lahm erhebt sich Kjartan und tritt ans Fenster.
Geh jetzt schlafen, sagt er in die Nacht hinaus. Ich möchte noch ein bisschen mit Maupassant ringen und mir in Ruhe Gíslis Päckchen ansehen. Verzeih mir mein hohles Gewäsch von vorhin, ich werde langsam alt und da redet man schon mal Quatsch. Es ist eben nicht alles so gegangen, wie es sollte.
Der Junge steht vorsichtig auf, weil er nicht ganz sicher ist, ob ihn seine müden Beine noch tragen, aber es geht, und die Aussicht auf die bevorstehende Ruhe gibt ihnen noch einmal Kraft. An der Tür dreht er sich ein letztes Mal um, lässt den Blick über die Regale mit all den Büchern schweifen, die angefüllt sind mit Worten, die völlig neue Welten öffnen könnten und neue Himmel, aber Kjartan starrt hinaus in die Nacht. Wie es in einem Menschen aussieht, erkennst du daran, wo er hinschaut.
Ich dachte, sagt er im Türrahmen und ist zu müde, um noch Zurückhaltung zu wahren, unter so vielen Büchern könne man gar nicht unglücklich sein.
Kjartan dreht sich um und sieht den Jungen lange an, sagt aber nichts.
Jens weckt ihn am nächsten Morgen.
Schwer zu sagen, wie viel Zeit verstrichen ist; vor den kleinen Fenstern, die zudem halb blind unter einer Eisschicht liegen, sind die Vorhänge zugezogen. Er braucht eine Weile, um wach zu werden. Jens sagt etwas über Sigurður, den Arzt, der ihnen den Auftrag zur Reise gegeben hat.
Was?, fragt der Junge.
Ich will diesem Mann nicht den Gefallen tun und noch mehr Zeit verlieren. Wir brechen auf, wir halten den Plan ein.
Jens spricht leise, aber seine Stimme ist wieder bei Kräften, kein Frost mehr darin. Die Kleider des Jungen sind nach der Nacht trocken, er zieht sich an. Von draußen ist nichts zu hören. Windstille etwa? Vielleicht hat der Sturm es endlich aufgegeben, die Menschen von der Insel fegen zu wollen. Der Arbeiter und eine zweite Magd sind draußen beim Vieh. Jens und der Junge bekommen Frühstück, und dabei erzählt die Pfarrersfrau Jakobína, was in dem Brief des Sohns steht. Sigfús heißt er. Kjartan lässt sich nicht blicken, vielleicht schläft er noch, denkt der Junge und löffelt seinen frisch angerührten Skyr. Er isst tüchtig, kann’s gut gebrauchen, er trinkt Kaffee, füllt den Bauch mit der warmen Flüssigkeit. Kälte und ein langer Weg stehen ihnen bevor. Beide essen schweigend, der Junge aus Schüchternheit, Jens, weil er das Schweigen den meisten anderen Dingen vorzieht. Schweigen bedeutet Schutz, es bedeutet Frieden. Dann kommt doch noch Kjartan herein. Er stampft den Schnee von den Schuhen und bringt einen Schwall morgendlicher Kälte mit. Auch er nimmt sich einen heißen Kaffee.
Die Gegend hier wäre mit Sicherheit längst verlassen, wenn es keinen Kaffee gäbe, sagt er und lächelt, als ob er gute Laune hätte.
Über den Fjord kommt ihr heute übrigens nicht, fährt er fort und hört nicht auf, zu lächeln.
Was du nicht sagst, meint Jens dazu und lässt die Anwesenden vorher lange auf diesen kurzen Kommentar warten.
Nein. Kjartan ist nach Svörtustaðir hinabgegangen, und die Schären draußen in der Bucht waren deutlich zu sehen.
Aha, dann wissen wir ja Bescheid, sagt Anna.
Kjartan: Genau, jetzt sind wir im Bilde. Wenn diese Schären auftauchen, kann niemand ernsthaft über den Dumbsfjörður setzen wollen. Es wäre Irrsinn.
Jens: Irrsinn.
Kjartan: Irrsinn. Kein Mensch würde das tun, abgesehen von den Lebensmüden natürlich.
Jens: So, so.
Kjartan: So ist das.
Jens: Ja.
Kjartan: Genau so, und keinen Deut anders.
Jens: Dann gehen wir zu Fuß.
Kjartan: Das glaube ich kaum.
Anna: Nein, bleibt doch noch hier. Erholt euch heute noch, und morgen, wenn’s sein muss. Die Männer setzen euch über, sobald das Wetter es zulässt. Setz den beiden hier noch etwas Gutes vor, Jakobína!
Anna
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