Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Welt, aber inzwischen leben sie seit zweiundzwanzig Jahren hier, das meiste, das zwischen ihnen einmal war, ist erloschen, und dennoch scheint Anna immer noch stets das Beste vom Leben zu erwarten, ihr ungebrochener Optimismus geht Kjartan manchmal ziemlich auf die Nerven. Worin besteht eigentlich der große Unterschied zwischen Optimismus und Idiotie, fragt er sich. Er beobachtet, wie sie die Augen auf- und zumacht, und sieht, wie sich in ihren Mundwinkeln sofort ein Lächeln bildet. Sie sieht ihn in der Tür stehen und zwinkert mit den Augen.
Es wird zunehmend dunkler um sie, ihr Augenlicht lässt nach. Zuerst haben sich die steilen und markanten Berge gegenüber dem Hof in Nebel gehüllt, dann begann selbst das Maríufjall, das den Hof, die Kirche und den Friedhof überragt, zu verschwinden, der Berg, den irische Mönche schon vor mehr als tausend Jahren gesegnet haben, der einzige christliche Berg hier in der Gegend. An manchen Tagen scheint er mehr aus Luft als aus hartem Gestein zu bestehen, als sei er auf dem Weg in den Himmel, für Katholiken ein heiliger Berg, und die Seeleute rufen ihn in Seenot noch immer an, flehen in Todesangst zu diesem Berg, der vielen bei schwerem Wetter erschienen ist und auch schon Leben gerettet hat, als würde er sich aufs Meer hinausbewegen, um zitternde und zerbrechliche Menschenwesen zu bergen. Maríufjall ist ihr vor gut einem Jahr ganz entschwunden, und im letzten Sommer machte sich das niedrige Buschwerk auf den unbewirtschafteten Flächen um den Hof davon. Vögel sieht sie kaum noch, sie haben sich in reinen Gesang verwandelt. Die nächste Umgebung allerdings erkennt sie weiterhin, Kjartan erkennt sie selbst auf einige Meter Entfernung. Die Nacht muss schon weit fortgeschritten sein, denn sie kehrt aus großer Tiefe zurück, aus einem tiefen Traum. Sein Bett steht in der kleinen Kammer hinter dem Zimmer, und es ist viele Jahre her, seit sie das letzte Mal zusammen geschlafen haben. Sie weiß kaum noch, wie sich sein hitziges Fleisch anfühlt. Aber aus ihrem Gefühl heraus glaubt sie ganz fest, dass die Welt früher oder später wieder hell werden wird, dass sich der Nebel einmal von ihren Augen und das Dunkel von Kjartan heben und er sich eines Nachts wieder zu ihr legen wird; er wird sie in die Arme nehmen, Fleisch wird wieder Fleisch spüren, Lippen werden Lippen fühlen und Seele Seele.
Schnell zieht sie sich an. Trotz der Kälte im Haus schläft sie immer nackt. Das Haus ist aus Holz, die Kälte dringt durch die Wände ein, aber sie hat heißes Blut und schläft nackt, wo andere vollständig angezogen unter den Decken noch mit den Zähnen klappern. Kjartan betrachtet ihren Körper, die kleinen Brüste, die er einmal begehrt und auf die er zwei Sonette gedichtet hat, eins für jede Brust, damals hat er noch an sich selbst und an die Welt geglaubt, damals waren sie kugelrund und fest und so heiß; jetzt sind sie nur noch leere Tüten, ihr magerer Leib sieht verbraucht aus. Kjartan lehnt sich an den Türrahmen und fragt sich, wo sind die Freude und die Lust geblieben?
Als die Pfarrersleute nach unten kommen, kniet der Junge noch immer bei Jens, und die Graue steht draußen und guckt herein, als wolle sie fragen: Und was ist mit mir? Der Junge hat es nicht über sich gebracht, die Tür vor ihr zu schließen, obwohl nun Kälte und Schnee ins Haus kommen. Er hat lediglich Jens mit einiger Mühe in das Zimmer neben der Diele geschleift; es ist offenbar das Arbeitszimmer des Pfarrers, vor lauter Büchern und Papieren sieht man kaum seinen Schreibtisch, und leider hat der Junge für einen Moment sowohl Jens als auch das Pferd vergessen, seine beiden Gefährten, von denen einer gefährlich unterkühlt ist. Er hat sie vergessen und sich umgeguckt; das Zimmer ist eher klein, es bleibt um den Schreibtisch herum nicht mehr viel Platz, die Regale dahinter quellen über von Büchern in besseren und schlechteren Einbänden, manche sind so zerfleddert, wie es alte, verschlissene Menschen sind, andere in etwas besserem Zustand, manche recht schön, sogar bestechend schön, und über allem liegt dieser berückend schwere Duft von Staub und Büchern. Tief atmet er ihn ein, vermutlich ist das Himmelreich nicht viel größer als das hier. Hier muss es sich gut wohnen lassen.
Die Leute frieren hier, sagt allerdings die Frau, die in Begleitung des Pfarrers die Treppe herabkommt.
Die Tür steht ja auch noch offen, entrüstet er sich und geht in die Diele, zögert aber, die Tür zu
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