Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Linie ihm dienen sollte, ausschließlich dem Leben.
Kjartan: Das Leben, das kann natürlich vieles sein.
Anna: Ich denke vielmehr, Männer sind verantwortungslos und vor allem von sich selbst eingenommen, und wir Frauen und die Kinder müssen es ausbaden. Jetzt aber esst! Der Herr meint es gut mit uns allen.
Jens räuspert sich und sagt fast entschuldigend: Wir werden vorsichtig sein, aber wir müssen den Zeitplan einhalten und die Post zustellen. Dafür sind wir nun einmal eingestellt worden.
Und dann sind sie fertig zum Aufbruch.
Weder Einsicht noch gute Worte halten sie zurück. Sie verabschieden sich mit Handschlag. Anna streicht ihnen mit der Hand über die Köpfe, bevor sie die Mützen aufsetzen. Um Jens’ Kopf zu erreichen, muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Der Arbeiter soll sie auf den Weg bringen, zeigt aber erst auf das Gebäude, in dem die Graue untergebracht ist. Als die Stute Jens und den Jungen sieht, erhebt sie sich und scheint sofort bereit, mit ihnen zu gehen. Sturm und Strapazen haben sie zusammengeschweißt.
Nein, nein, leider, du bleibst hier, sagt Jens. Wir kommen wieder und holen dich, in zwei Tagen etwa. Mit Pferden unterhält sich Jens gewöhnlich länger als mit Menschen. Pferde können eben nicht sprechen und antworten darum nie, aber sie haben große Augen und manchmal ist es, als ruhe die Versöhnung mit der Welt darin. Der Junge umarmt den großen Kopf, und die Stute schließt die Augen.
Das Wetter hat sich beruhigt, leichter Schneefall. Die Flocken schweben um sie her, tragen Stille zwischen sich, es gibt keinerlei Anlass und Bedarf, zu reden. Der Schnee fällt nicht dicht, sie können die Berge sehen, die die Bucht umschließen. Zur Linken steht das Maríufjall; kaum vierhundert Meter hoch, aber in manchen Abschnitten so steil und spitz, dass es einem großen Schwert ähnlich sieht. Zur Rechten stehen Seite an Seite vier formgleiche Berge mit schwarzen Schluchten zwischen sich, ihre Gipfel sind rund und gedrungen wie vier Trolle, die einmal wütend die Schädel durch die Erde nach oben geschoben haben und dann zu Stein erstarrt sind. Der Junge lauscht der Stille zwischen den Schneeflocken und genießt sie, aber leider nicht lange, der Arbeiter will sich unbedingt unterhalten, er ist ein gesprächiger Mensch.
Das sind richtige Berge, Leute, sagt er, zeigt ausholend mit dem Arm nach rechts und erzählt ihnen anschließend die vierhundert Jahre alte Geschichte von einem Geistlichen.
Sie steht in den alten Unterlagen auf dem Pfarrhof, sagt er. Kjartan hat sie uns im Winter vorgelesen, sie war lange vergessen, aber durch sein ewiges Herumwühlen in den alten Papieren hat er sie wiederentdeckt. Na ja, so hat die Marotte immerhin etwas gebracht. Dieser Pastor hatte etwas gegen die vier Berge, die Schädel, wie wir manchmal sagen, und eines Sommermorgens ist er in aller Frühe mit vier Begleitern aufgebrochen, um sie zu segnen. Er bestieg den ersten, ließ sich dann mit Weihwasser und Gottes Wort daran abseilen, besprengte und segnete den Berg an der Stelle, die wir Stirn nennen, kam aber etwas seltsam wieder nach oben. Trotzdem hat er sich sofort auf den Weg zum nächsten gemacht und ist so schnell gerannt, dass seine Begleiter ihm kaum folgen konnten. Er ließ sich abseilen, eine gute Weile verging, es blieb alles still, die Sonne schien und eine harmlose Brise wehte. Lasst bitte ein brauchbares Messer herunter, gute Männer, hörten sie ihn auf einmal rufen, in aller Seelenruhe. Und sie taten, worum er sie gebeten hatte, banden ein Messer an ein Seil, und ließen es zu ihm hinab. Kurz darauf zupfte er an dem Seil, und sie zogen das Messer wieder nach oben, über und über mit Blut verschmiert. Der Arbeiter verstummt. Er wartet ab in der Stille, die der Schnee vom Himmel zur Erde mitbringt, er wartet in himmlischer Stille, bis der Junge widerwillig, denn er weiß, dass er nicht umhinkommt, fragt: Wieso blutig?
Ja, Männer, da kommt ein bluttriefendes Messer nach oben. Natürlich fährt ihnen der Schreck in die Glieder, und sie rufen nach unten, bekommen aber keine Antwort. Sie holen das Seil ein, erst zügig, dann mit aller Kraft, und sie müssen sich ganz schön ins Zeug legen, der Pfaffe muss ganz schön zugenommen haben, oder eine andere Kraft zieht mächtig in die entgegengesetzte Richtung; endlich taucht er über der Kante auf, aber sie erschrecken sich so, dass sie loslassen, der Pfarrer macht einen Abgang und zerschmettert etliche hundert Meter tiefer.
Jens und
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