Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
geht auf den Sturm los, der ein brüllendes Hohngelächter aus allen Richtungen ist. Ein Hohngelächter über ihn, Jens Guðjónsson, den Menschen, sein Leben, seine Schwächen, sein Versagen. Es könnte niemand ersetzen, weder Mensch noch Gott, wenn ich den Schatz meines Herzens verlöre. Du kommst auf dem Rückweg vorbei, hat Salvör zu ihm gesagt, bevor er sich vor einer Woche auf den Weg über die Hochheide gemacht hat. Sie standen draußen vor dem Haus, beide unausgeschlafen, die Ringe unter ihren Augen waren im harten Tageslicht deutlich zu sehen; Messer der Zeit, Messer des Lebens.
Ja, hatte er gesagt, sicher. – Wirst du an mich denken? – Ja. – Wann? – Immer. – Immer, ein schönes Wort. Und was tust du, wenn du zurückkommst? – Ich küsse dich, hat er gesagt und stieg zur Heide auf.
Du weißt, ich frage nicht nach Gegenliebe. Ich habe meinen Mann geliebt, sagte sie, als sie einmal beieinanderlagen, dieses Schwein. Du warst noch jung, hat Jens damals geantwortet. Ja, aber ist es nicht komisch, dass man einen solchen Mann lieben kann? Er hat mich geschlagen, und ich habe ihn trotzdem geliebt, bis ich anfing, ihn zu hassen. Ich weiß noch, dass er einmal gut war und gut aussah, er war nur dem Leben nicht gewachsen, und das machte ihn zu einem Schwein und einem Feigling. Ich habe geglaubt, ich könnte nie wieder jemanden lieben, sagte sie im Dunkel der Baðstofa , und wahrscheinlich waren sie beide dankbar für die Dunkelheit, denn solche Worte sprechen sich im Dunklen leichter aus, man hört und empfängt sie auch leichter. Jens sagte natürlich nichts, umarmte sie aber und ließ seine Hände reden. Du weißt, dass ich dich liebe, sagte sie und verschloss seinen Mund mit einem Kuss, bevor er etwas sagen konnte. Es soll jeder wissen, ich liebe dich, ohne das wäre mein Leben tot. Was tust du, wenn du zurückkommst? Ich küsse dich. Wollte sie vielleicht etwas anderes hören? Ein Kuss, was ist das schon? Hat sie ihn nicht um ein Leben gebeten, um alles, was er zu geben hat, all seine Tage, seine ganze Stärke und all seine Schwächen – und er bot ihr einen Kuss an! Jens stapft weiter, und der Sturm ist ein einziges gellendes Hohnlachen, denn obwohl Jens nur an Salvör denken will und an niemanden sonst, an ihre Stimme, an die Küsse, ihr Nackengrübchen, ihre langen Beine, die Wärme, die ihr Körper ausstrahlt, geht ihm doch Jakobína, die Magd in Vík, nicht aus dem Kopf; er kann es nicht ändern. Er hat keineswegs geschlafen, als sie ihm die kalten Beine massierte, er war durchaus wach und hat sie trotzdem nicht abgehalten, obwohl sie ziemlich weit nach oben ging, zu weit, obwohl sie anfasste, was sie keinesfalls hätte berühren dürfen, und er hat sie nicht zurückgehalten, wollte sie auch nicht davon abhalten.
Wer im Krieg König und Vaterland verrät, wird standrechtlich erschossen. Was aber sollen wir mit denen machen, die sich selbst verraten und das Leben?
Warum hat er Salvör nie gebeten, mit ihm zu kommen, ernsthaft und entschlossen, sondern es stattdessen damit bewenden lassen, sie in der Sommerhelle halb scherzhaft zu fragen und sich mit einer halbherzigen Antwort abspeisen zu lassen? Was hat er gefürchtet, seine eigene Schwäche? Dass er keinen Deut besser ist als das Schwein, ihr Mann? Und befürchtete sie womöglich das Gleiche, dass er ein Schwächling sein und wie ihr Mann enden könnte? Sie demütigen und verprügeln. Vielleicht bin ich genauso verdorben wie dieser Teufel, denkt Jens, rennt wie von Sinnen eine Schneehalde hinauf und schreit.
Natürlich schreit er laut, aus vollem Hals, es dröhnt in ihm, er zittert unter diesem Schrei, aber der Junge hört ihn nicht, er hört lediglich den Wind, Jens hat er längst aus den Augen verloren, der Verrückte ist einfach in den Sturm hinausgerannt und hat ihn allein zurückgelassen, dieser durchgedrehte Mistkerl, dieser Briefträger! Ich kann irgendwie nicht ganz bei Trost sein, dass ich ihm noch immer folgen will anstatt einfach umzukehren, wie er es mir angeboten hat. Der Junge kämpft sich weiter, fällt zweimal hin und überschlägt sich, lässt sich beide Male dazu hinreißen, nach dem verrückten Postboten zu rufen, aber bloß der Wind antwortet; er sinkt ein, rutscht einmal sogar einen Abhang hinab, eine beträchtliche Strecke, er hat, als er endlich zum Halten kommt, keine Ahnung, wo er sich befindet, nicht den leisesten Schimmer, in welche Richtung er weitergehen soll, und darum geht er eigentlich gar nicht in eine
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