Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ein gutes Stück oberhalb der Küste, dann sind sie gezwungen, weiter nach unten zu gehen, an manchen Stellen sogar unmittelbar am Ufer entlang, was nicht ungefährlich ist, nicht wegen der Brecher, die kaltblau ans Ufer schlagen, sondern wegen etlicher Schneewehen, die sich an höheren Uferpassagen angelagert haben. Die Flut hat sich tief in sie hineingegraben und Überhänge oder Grotten zurückgelassen, sodass stellenweise Tonnen von Schnee wochenlang nahezu frei in der Luft hängen und bei der leisesten Erschütterung abbrechen und in sich zusammenstürzen können. Bei Helligkeit und guter Sicht ist es für die Einheimischen ein Leichtes, diese Überhänge zu vermeiden und die Schafe an ihnen vorbeizutreiben, Jens und der Junge aber sehen jetzt so gut wie nichts und sind sich der Gefahr nicht bewusst. Jens wird jedoch aufmerksam, als die Windgeräusche ferner klingen und es seltsam still um sie wird. Er bleibt stehen, sieht sich um, lauscht, packt den Jungen an der Schulter und erklärt ihm leise die Situation, in der sie sich befinden, dass nämlich wohl mehrere Tonnen Schnee über ihnen hängen.
Sag nichts, ein Wort könnte uns das Leben kosten.
Sie schaffen die Passage glücklich, bleiben hinter dem Uferabschnitt ganz kurz Seite an Seite stehen, als wollten sie der erstaunlichen Tatsache gedenken, dass sie noch am Leben sind, und marschieren dann weiter, laufen an Bauernhöfen vorbei, ohne es zu merken, die Grassodenhäuser liegen unter dem Schnee begraben, sind selbst bei hellem Tageslicht unsichtbar, geschweige denn bei diesem Unwetter. Menschen und Tiere leben und atmen unter dem Schnee wie das Gras, das auf Sonnenschein und Vogelgezwitscher wartet.
Sie gehen und denken. Für einen gewöhnlichen Menschen ist es jedoch gar nicht so leicht, seine Gedanken beisammenzuhalten, sie sind schlechter zu hüten als eine Schafherde und laufen davon, sobald du einmal nicht aufpasst, laufen sie weg und verschwinden in der Ferne oder lösen sich auf wie Rauch. Eigentlich denkt der Junge bloß krudes Zeug. Ein paar Bildchen aus der Erinnerung, Ereignisse, die sich bei den Fischerhütten zugetragen haben, Andrea lachend zwischen ihm und Bárður, Pétur schweigend, Pétur, der gegen die Kälte zotige Reimgedichte aufsagt, Árnis freundliches Gesicht, Tanzschritte, die Guðrún in Guðmundurs Hütte vor ihm und Bárður vorgeführt hat, vielleicht besonders vor Bárður, an dem Abend aber hatte er nicht einschlafen wollen aufgrund von einem Gefühl, das er damals für Liebe hielt. Er denkt an Bárður, und das tut ihm so gut, dass er sich eine ganze Weile lang vergisst, das Gehen fällt leichter, es geht sich, als ginge Bárður neben ihm, er ist neben ihm, nicht kalt und tot oder hart und voller Vorwürfe, sondern lebenswarm, die Kraft scheint von ihm auszustrahlen, die das Leben leichter macht und Schwierigkeiten weit wegschiebt. Der Junge denkt an Bárður und vermisst ihn. Wer stirbt, kommt nie zurück, wir haben ihn verloren, keine Macht der Welt kann uns die Wärme seines erloschenen Lebens, den Klang seiner Stimme, die Bewegungen, seinen Witz wiederbringen. All die kleinen Dinge, aus denen das Leben besteht und die ihm Wert und Bedeutung verleihen, sind auf ewig verloren, vergangen, und sie lassen ein Loch im Herzen zurück, das die Zeit nach und nach zu einer wulstigen Narbe verschließt. Wer gestorben ist, verlässt uns niemals ganz, ein Widerspruch, der zugleich tröstet und quält, ein Verstorbener ist nah und fern.
Du bist tot, und trotzdem bist du hier, murmelt der Junge, und Bárður lächelt, und das Gehen fällt leichter, der pfeifende Wind schiebt ihn vor sich her, wirft ihn fast um, aber das macht nichts. Ich soll dir einiges von den anderen ausrichten, sagt Bárður, sie beobachten, was du tust, sie hoffen und sie glauben an dich – du weißt also, was du zu tun hast.
Nein, sagt der Junge aufrichtig, genau das weiß ich nämlich nicht, und das ist mein Problem. Sag du mir, was ich tun soll.
Aber da ist gar kein Bárður, er spricht mit dem Schnee, und irgendwo dahinter steht der Gletscher, so groß wie das Ende. Der Schnee wirbelt vom Boden auf und wird ihnen entgegengeschleudert, wenn sie noch länger leben wollen als bis in die bevorstehende Nacht hinein, müssen sie einen Unterschlupf finden. Aber wo gibt es einen? Jens ist dagegen, sich in den Schnee einzugraben, sich im Innern des Feindes selbst einzurichten, ein so zweifelhafter Schutz, dass er schnell zur Todesfalle werden könnte. Sie
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