Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
nicht mehr so gut, man schämt sich eigentlich nur noch. Und das Schweigen ist auch nicht mehr so gut, das Leben macht ohne ein Gespräch nicht halb so viel Spaß, das Schweigen bringt das Risiko mit sich, dass man anfängt, über Dinge nachzudenken, über die man besser nicht nachdenken sollte.
Kannst du nicht irgendein Gedicht?, fragt er.
Nein, antwortet Jens, ohne aufzublicken.
Sollen wir ein bisschen was singen?
Nein.
Aber du musst doch ein Gedicht kennen, vielleicht eins von Bjarni. Ein Mann wie du …
Nein, sagt Jens.
Von Jónas?
Nein.
Sollten wir uns nicht wenigstens ein bisschen unterhalten?
Nein.
Warum nicht?
Warum denn?
Na ja, zwei Männer allein im Sturm, nachdem sie in unwegsamem Gelände sechsundzwanzig oder achtundzwanzig Stunden lang marschiert sind und noch immer ein weites Stück Weg vor sich haben.
Jens schweigt.
Man ist dann auch weniger einsam.
Jens schweigt.
Denkst du nach?
Ich ruhe mich aus.
Hast du viel nachgedacht?
Nachgedacht? Wozu?
Du hast gesagt, du müsstest nachdenken, erinnerst du dich, und ich …
Nachdenken ja. Reden nein.
Manchmal gehört das eine zum anderen.
Kaum.
Das eine unterstützt das andere.
Nein.
Wie heißt sie?
Wer?
Die Frau.
Welche Frau?
Die, an die du denkst.
Wer sagt, dass es eine Frau ist.
Ist es dann ein Mann?
Du gehst mir auf die Nerven.
Ich meine, du willst tagelang durch Schnee und schlechtes Wetter laufen, um nachzudenken. Da muss doch eine Frau dahinterstecken!
Jens schweigt.
Na gut, sagt der Junge, dann trage ich mir selbst ein paar Gedichte vor. Du entschuldigst, dass ich sie laut aufsage. Ich finde es einfach besser so. Ich empfinde die Worte dann intensiver.
Was für einen Sinn soll das haben?, fragt Jens widerwillig, aber der Junge gibt ihm keine Antwort mehr, sondern sagt, umgeben von Sturm und Schnee und an der Seite eines Mannes, der Wörter nicht mag, zwei Gedichte von Jónas Hallgrímsson auf, zwei von Steingrímur Thorsteinsson und zwei von Kristján Fjallaskáld. Jens versucht nicht, ihn abzuhalten, rückt aber von ihm ab und guckt in eine andere Richtung, als wäre er am liebsten woanders. Nach vielen Worten über Blumen, Liebe, Sehnsucht, klaren Himmel und Dunkelheit sagt der Junge ein Gedicht von Ólöf frá Hlöðum auf. In alten Büchern heißt es, es bringe Unglück, in schlechtem Wetter das Gedicht einer Frau aufzusagen.
Du weißt, dass ich keine Gegenliebe fordere, beginnt der Junge und legt einen eisverkrusteten Fausthandschuh über sein verschneites Herz.
Du weißt, ich frage nicht nach Gegenliebe,
– die Jungen, sie fragen und hoffen. –
Ich habe gelernt, halt dich im Leben an das, was dir
offensteht,
und sehe derweil aus wie ein altes Weib.
Und findest du doch in Laut und in Schweigen
ein Verlangen in der Tiefe verborgen,
dann wisse, ich biete dir keine verblühte Blume am
Morgen,
keine Lippen, die kalt sind und welken.
Es soll jeder wissen, ich liebe dich noch,
ohne das wäre mein Leben tot.
Es könnte niemand ersetzen, weder Mensch noch Gott,
wenn ich den Schatz meines Herzens verlöre.
IX
Poesie ist nicht immer gut zu ertragen, sie kann in ganz unerwartete Richtungen mit einem auf und davon gehen. María kennt Ólöf nicht, denkt der Junge bei der zweiten Strophe; María an der Winterküste, und in Sléttueyri werden sie das Gedichtbändchen kaum vorrätig haben. Jens hat er längst vergessen, ein einziges Gedicht von Jónas, und dieser Junge ist ganz in Poesie versunken, bekommt kaum noch etwas mit von dem Wetter um ihn herum, spricht die Gedichte laut vor sich hin, sagt sie auf wie Zaubersprüche und schaut in eine andere Welt. Nichts ohne dich ist süß. Dichtung tötet, sie lässt dir Flügel wachsen, und wenn du mit ihnen schlägst, spürst du die Fesseln. Sie öffnet dir den Blick in eine andere Welt und reißt dich dann zurück in einen Sturm oder in den Schmutz des Alltags. Ohne das wäre mein Leben tot. Aus irgendeinem Grund muss der Junge die letzte Strophe noch einmal wiederholen, und da steht Jens auf, steht auf und ist aus dem Windschutz hinaus und in den Sturm hineingerannt, er ist abgehauen. Der Junge reißt sich aus der Gewalt der Poesie und beeilt sich, ihm zu folgen, um nicht zurückzubleiben und verloren zu gehen.
Jens stürmt voran, durch Schnee und Wind, er hat die Richtung geändert, geht nach Nordwesten. Ohne das wäre mein Leben tot. Er geht auf den Sturm los, als wäre er ein menschliches Wesen, das es in die Knie zu zwingen gälte, als ginge es um Leben und Tod. Er
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