Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
stapfen weiter, zwei Menschen, zwei Lebewesen, zwei Leben in übertrieben schlechtem Wetter. Der Junge fühlt sich versucht, das Gewicht auf Jens’ Arm zu stützen. Du trägst die Verantwortung für ihn, hat Helga gesagt, und Jens hat geantwortet: Ja. Was ist ein Wort wert, wenn man es nicht hält? Was ist man dann selbst wert? Und wer entscheidet darüber, ob wir leben oder sterben, im Schnee erfrieren oder draußen auf dem Meer oder ob wir vor Einsamkeit eingehen? Aus irgendeinem Grund geht Jens nun gegen den Wind. Er ist fast blind unter der Schicht aus Eis und Schnee, die sein Gesicht überkrustet, aber sie finden einen Hof, der halb unter dem Schnee begraben ist und seit Langem verlassen. Aber er bietet Schutz, sogar ausgezeichneten Schutz, sie richten sich ein, kauen an ihrem Proviant, der Junge spricht leise vor sich hin, zitiert ein Gedicht, überlegt, welche Menschen hier gelebt haben mögen, und dann bibbern und schlottern sie sich in den Schlaf. Übernachten in einem verfallenden Haus. Schlafen nicht wirklich tief, sondern dösen mehr oder weniger vor sich hin. Was ist aus den Leben geworden, die hier einst geführt worden sind? Warum verfliegen sämtliche Stunden eines Menschen und werden vollständig vergessen? Gibt es niemanden, der das alles aufschreibt, alle Ereignisse, Kinderlachen, Küsse? Die Nacht geht herum, es kommt der nächste Morgen, und sie leben noch. Allerdings gerade nur eben so, brummt der Junge, als er hinter Jens aus ihrem Unterschlupf kriecht, so steif vor Kälte, dass es ihm vorkommt, als sei er um fünfzig Jahre gealtert.
VIII
Die beiden Männer blinzeln mit den Augen und blicken sich um. Es ist früh am Morgen, das Licht des Frühlings aber, das manchmal hart, zuweilen auch vom Sonnenschein weich sein kann, ist kaum zu sehen, das Licht rieselt dünn zwischen den Schneeflocken herab, die der Himmel über dieser Gegend ausschüttet. Sie brechen auf. Den Gletscher sehen sie nicht, können ihn aber spüren, er liegt zu ihrer Rechten und erstreckt sich hinter dem fallenden Schnee. Ein Gletscher ist nichts weiter als ein gewaltiger Haufen alter Schnee, viele Jahrhunderte alte Schneeflocken, und dennoch verändert er seine gesamte Umgebung. Wenn die Sommersonne auf ihn scheint, wird alles größer und schöner, als ob ein Segen über der Landschaft ruhe, und dann würden die Menschen lieber sterben als fortziehen.
Du bist dir sicher, was den Weg angeht?, fragt der Junge an der ersten windgeschützten Stelle, die sie viel zu viele Stunden nach ihrem Aufbruch erreichen. Die steife Unbeweglichkeit ist inzwischen gewichen, sie haben sich die Kälte aus dem Körper gelaufen. Ansonsten noch immer der gleiche Schneefall, der gleiche Sturm, das gleiche Schneefegen.
Bist du dir sicher?, fragt er, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen. Menschen, die miteinander reden, stehen der Welt nicht schutzlos gegenüber. Jens guckt schweigend vor sich hin, bröckelt sich Eis aus dem Bart.
Ja, ja, sagt er schließlich.
Es ist gut, wenn man weiß, wo’s langgeht, schiebt der Junge nach.
Wir gehen erst nach Nordosten, dann nach Nordwesten, sagt Jens.
Und wann ändern wir die Richtung?
Rechtzeitig.
Gut, wenn man weiß, wo’s langgeht, wiederholt der Junge, denn es ist ebenfalls gut, sich in wenigen, klaren Worten auszudrücken, kein dummes Gerede, keine Umschweife, lediglich Feststellungen. Er sitzt neben Jens und wächst durch diese Einsicht. Ein Mann zu sein, heißt, zu wissen, wo’s langgeht, und nicht zu viele Worte darüber zu machen. Frauen mögen solche Männer. Das ist einfach so. Da muss er natürlich sofort an Ragnheiður denken, ohne sich dagegen wehren zu können, dabei ist sie Friðriks Tochter, und das verheißt nichts Gutes, ganz und gar nicht. Bloß gut, dass sie nach Kopenhagen gehen will und da sicher mitsamt ihren kalten Augen zwischen all den Türmen und Menschen verloren gehen wird. Mitsamt ihrem Körper, straff wie ein gespannter Strang, mit ihren harten, festen Brüsten. Aber er war vorher noch nie geküsst worden, und dann hat sie ihn geküsst. Mit feuchten und warmen Lippen.
Wie soll man das vergessen können?
Wenn er nur ihre Brüste berühren dürfte! Es muss doch etwas passieren, wenn man das anfasst, was man niemals sehen darf.
Verstohlen blickt er vor sich hin. Es tut gut, wenn sich in bitterer Kälte und schlechtestem Wetter etwas an einem aufrichtet. Es wird einem ein bisschen warm dabei, man vergisst alles andere. Aber im nächsten Moment ist es schon
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