Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
bestimmte Richtung, sondern wühlt sich einfach weiter, dreht den Kopf, versucht, die Augen zu schützen, während er in alle Richtungen Ausschau hält, schmiegt den Blick zwischen den Schneekörnern hindurch, aber sieht natürlich nichts als Schnee und nochmals Schnee. Mistkerl!, denkt er, verwünscht Jens, lässt es aber rasch wieder sein, denn dazu hat er keine Kraft, marschiert einfach weiter. Nun ja, vielleicht nicht ganz geradeaus, und das ist nicht besonders gut, er irrt umher, mutterseelenallein, der Wind beutelt und schüttelt ihn. Als er Jens verloren hat, sind sie bergauf gegangen, eine ganze Weile sogar, deswegen ist es wohl das Sicherste, wenn er das jetzt auch tut. Aber je weiter hinauf er kommt, desto schwieriger wird das Vorwärtskommen. Manchmal steckt er regelrecht fest, eingesunken bis unter die Achseln, es dauert Ewigkeiten, bis er sich herauswühlen kann, es kostet ihn wertvolle Kraft. Dann folgt diese unfreiwillige Rutschpartie, und er traut sich nicht wieder hinauf, steigt sogar noch weiter nach unten, versucht aber, nordwestlichen Kurs zu halten, jedenfalls das, was er für Nordwesten hält. Dann gibt er auch das auf und denkt nur noch daran, am Leben zu bleiben; an und für sich auch ein prima Ziel. Er treibt mit dem Wind, sucht nach dem leichtesten Weg, umgeht Wehen, weicht zurück, wenn der Schnee unter ihm nachgibt, versucht es anderswo, und dann kann er nicht mehr, rutscht aus, fällt auf die Knie und hat keine Kraft mehr, wieder aufzustehen. Auf allen vieren kriecht er noch ein Stück, versucht, Schutz zu finden, findet ihn auch, vielleicht nicht wirklich ein Windschutz, nicht direkt, aber wenigstens eine dem Wind nicht ganz so ausgesetzte Stelle, und da legt er sich hin. Das tut gut.
Der Sturm treibt weiter oben sein Unwesen und kümmert den Jungen nicht länger.
Aber es ist verdammt einsam hier, als sei er der einzige Mensch auf der Welt und alle übrigen schon bei anderer Gelegenheit gestorben, alles Gute ist tot, alle Hoffnung dahin. Er fühlt etwas aus der Mitte seines Herzens im Hals aufsteigen, das ist die Tränensäule, die jetzt so hoch geklettert ist, dass sie überlaufen will, sie steigt und füllt den Brustkorb und dann die Kehle. Um sich zu trösten, stimmt er ein Wiegenlied aus frühesten Kindertagen an, ein altes Volkslied, eine ganz schlichte und zerbrechliche Melodie zu vier Strophen, die in sich Trost und Träume aus tausend Jahren bergen. Seine Eltern haben sie ihm oft ganz leise vorgesungen, und die melancholische Melodie hat ihn in den Schlaf und in seine Träume begleitet. Er summt vor sich hin, er summt und singt die fragile Melodie hinaus in den Sturm, singt, bis das Lied seine Mutter erreicht, die es aufnimmt und Stück für Stück zu ihm zurückverfolgt. Hier bist du, mein armes Kerlchen, sagt sie, hebt ihn mühelos auf und nimmt ihn mit sich, wohin weiß er nicht, nur hoffentlich weg aus diesem Sturm und weg aus dieser Einsamkeit, die man das Leben nennt.
X
Man möchte glauben, da wäre jemand, der auf dich aufpasst, knurrt Jens, der plötzlich aus dem Schneesturm hervorgekommen ist und den Jungen aufhob, ihn wachrüttelte und schüttelte.
Nicht einschlafen!
Doch, das tut so gut.
Das stimmt, aber dann wachst du nie wieder auf.
Warum sollte ich denn, fragt der Junge, aber Jens bleibt ihm die Antwort schuldig; er muss auch keine mehr geben, der Junge ist jetzt wach, fühlt den Schnee wieder und die Kälte, und seine Mutter ist verschwunden.
Jens über ihm ist derart eisverkrustet, dass er mehr einem Sendboten der Hölle als einem Menschen ähnlich sieht.
Ich dachte, da wäre es heiß, sagt er.
Nein, die Hölle ist kalt. Sie ist ein Labyrinth aus Eis.
Woher hast du das denn?
Weiß ich nicht. Woher hast du denn, dass es in der Hölle heiß sein soll?
Steht das nicht in der Bibel?
Die ist ganz sicher nicht in Island geschrieben worden, sagt der Junge.
Nein, da hast du recht, gibt Jens zurück und erklärt dann: Da gibt jemand auf dich acht.
Was soll das heißen?, fragt der Junge ungehalten darüber, dass er in die Kälte und ins Leben hat zurückkehren müssen, die Ruhe tat so gut, und seine Mutter war bei ihm.
Ja, Jens war dem Jungen davongelaufen, war einfach losgerannt und es war ihm alles egal gewesen, erst hoch oben am Berghang kam er wieder zu sich und fand sich plötzlich allein wieder.
Du bist so schnell gelaufen, ich habe noch versucht, zu rufen.
Ich habe mein Wort gebrochen, bricht es aus Jens heraus.
Wie das?
Ich sollte auf dich
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