Der Schmetterlingsbaum
Wolken brach. Sechs und acht Jahre alt, spielten sie meist auf der einen kleinen ungeheuer grünen Wiese, die Christussattel hieß: Tausend Jahre früher war sie in mühseliger Arbeit von den Mönchen Schicht um Schicht aus Seetang angelegt worden, damit sie dort eine Kuh, einen Esel, eine Ziege halten konnten, und zwischen den abschüssigen Felswänden ringsum bot sie so viel Sicherheit, wie man sich auf dieser Insel eben erhoffen konnte. Was spielten sie? Was für Inselspiele erfanden sie? Solche Fragen stellte uns mein Onkel, wenn wir uns langweilten oder nach neuen Spielsachen oder Fernsehen quengelten. »Habt euch nicht so«, sagte er, »diese Kinder auf den Skelligs hatten überhaupt kein Spielzeug, und ihr einziges Fernsehen war das Wetter.« Ja, das Wetter! Von welchen außergewöhnlichen Spielen waren sie wohl gefesselt, frage ich mich, als sie das extreme Geheul des verhängnisvollen Sturms vernahmen, der sie beide von der menschengemachten Wiese fegte und in die Fluten unter ihnen warf? »Wie Münzen in einen Brunnen«, sagte mein Onkel und ließ sich die Metapher auf der Zunge zergehen.
Aber sie wurden nicht so weit geschleudert, dass ihre Leichen für immer verschwunden wären. Tags darauf, als Butler-das-Auge verzweifelt die Insel absuchte, fand er seine Söhne, wie sie mit den Wellen ans Ufer schlugen – erst den einen, den achtjährigen, sagte mein Onkel, um die Geschichte präziser zu machen, als nötig gewesen wäre, dann den anderen, nur hundert Meter voneinander entfernt. Sie schienen unversehrt, ihre Körper frei von Verletzungen, die Augen starr.
Beide Kinder wurden auf dem Friedhof der Mönche beigesetzt, der seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden war, und danach schrieb ihr Vater an die irische Leuchtturmverwaltung und bat um Versetzung auf die Hauptinsel. Dies geschah, und Butler-das-Auge lebte lang genug, um zwei weitere Söhne zu zeugen, die wie ihr Vater Leuchtturmwärter wurden: einer auf der zahmeren und viel größeren Insel Valentia, die ebenfalls zur Grafschaft Kerry gehört, der andere an der vergleichsweise heiteren irischen Ostküste. Aus dem Sohn des Wärters auf Valentia wiederum wurde der amerikanisch e Leuchtturmwärter, der weit genug in den Norden wanderte, um den Leuchtturm am heutigen Sanctuary Point zu bemannen.
Aber für mich begann die Geschichte, so packend sie war, eigentlich erst mit der Beerdigung der beiden Inselkinder auf dem Friedhof der Mönche. Als Kind entwickelte ich, ohne dass mein Onkel irgendetwas dazu getan hätte, die Theorie, dass diese beiden Kinder in einer Umgebung wie der Skellig-Insel praktisch sofort Geister geworden sein müssen und von ihren Nachbarn, den Schatten der Mönche, in den Rechten und Pflichten der Geisterwelt unterwiesen wurden. Ich stellte mir vor – versuchte es wenigstens – , in welcher Form ihre Gespräche verliefen, und überlegte, ob der Wind der ganzen Gesellschaft noch etwas anhaben konnte, wenn sie doch Geister waren. Manchmal träume ich noch von flatterndem Sackleinen und Glasscherben.
In diesem letzten Sommer erzählte ich Teo einmal die Geschichte von Butler-dem-Wärter. Er hörte aufmerksam zu und sagte dann, die Geschichte von den zwei ertrunkenen Kindern und der Mönchsgemeinschaft, die vor Ewigkeiten hier gelebt hatte, sei ihm irgendwie bekannt, er könne sich nur nicht erinnern, wo er sie gehört hatte. Damals fragte ich mich wirklich, ob es vielleicht einen mexikanischen Leuchtturm gab, zu dem eine ähnliche Geschichte gehörte. Heute ist mir natürlich klar, dass die Geschichten meines Onkels Wege gingen, von denen wir nichts wussten, und in Räumen, die wir nie zu Gesicht bekamen, weitererzählt und gehört wurden wie im Traum, unsicher geflüstert an der Schwelle des Schlafs, vielleicht benutzt, um Zeit zu erkaufen oder Zuneigung. Ist noch jemand am Leben, der sich erinnert?, frage ich mich heute. Shane, Don und ich haben nie darüber gesprochen. Soll diese meine Nacherzählung ihre letzte Bestimmung sein? Vielleicht erzählen Sie diese Geschichten ja irgendwann jemandem, und der erzählt sie dann ebenfalls weiter.
Mein Onkel, ist mir heute klar, probte seinen endgültigen Abgang fast jedes Jahr. Wenn der Sommer zu Ende ging und die letzten Apfelkisten verschickt, die letzten Mexikaner in den Bus gesetzt und auf dem Weg zum Frachtterminal waren, pflegte mein Onkel kurzerhand zu verschwinden – manchmal für zwei, drei Tage, manchmal für eine ganze Woche – , und niemand sagte uns, wohin er
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