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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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mein Onkel, muss die erste Generation dieser heiligen Männer vollständig verschlissen und verbraucht gewesen sein, nachdem sie allein die drei verschiedenen Treppen, eine mit sechshundert Stufen, bis hinauf zu ihrer klösterlichen Behausung aus dem steilen Fels geschlagen hatten. Ihre Zellen waren bienenstockähnliche, mit Kraggewölben abgeschlossene Hütten, ferner hatten sie eine kleine mittelalterliche Priorei, eine Kapelle, zwei Brunnen und etliche aus Bruchstein errichtete Sammelbecken für Regenwasser. Natürlich gab es auch einen Friedhof, von dem ein halbes Dutzend grob behauener Steinkreuze zeugte.
    Mein Onkel schwelgte in der Vorstellung, wie sein Vorfahr Tim Butler, nach dem er übrigens seinen Hund benannt hatte, mit dem Regenwasser aus den steinernen Becken der Mönche Tee kochte. Keiner Erwähnung wert war hingegen seine Frau, die mit dem von ihm »Himmelsgabe« genannten Wasser Wäsche wusch, Babys badete, kochte und putzte. Bis zum heutigen Tag sehe ich, wenn ich an den Mann denke, den die Leute von Kerry Butler-den-Wärter nannten, eine Familie vor mir, die umtost von unvorstellbaren Stürmen allein von Tee lebt. Das Versorgungsboot von Port Magee konnte, wenn überhaupt, sicher nur selten landen, und sicher trieb der Sturm die Geister der ersten Generation Mönche mit flatternden Büßerkutten und klappernden Knochen vor sich her um den Turm.
    Alle zwei Jahre machte ein Leuchtturmwärter von der Hauptinsel das Angebot, den Wärter Butler abzulösen, damit der mit seiner Familie zum Weihnachtsfest nach Butler’s Court fahren konnte, und jedes Mal, wenn der Tag näher rückte, durchkreuzte das Wetter allein den Gedanken an Ablösung und Bootsfahrt mit immer rasenderen Stürmen. Und sicher wollte Butler-der-Wärter heim, stelle ich mir vor, sicher hoffte er, an diesem höchstwahrscheinlich fiktiven Ort Butler’s Court wenigstens ein symbolisches Stück Land zu beanspruchen, denn wie mein Onkel sagte, konnte nur ein Sohn das Land erben, und das war nicht Butler-der- Wärter. Der war der Abzweiger.
    Ich weiß noch, dass ich schon als Kind dachte, ich sei von den aufeinanderfolgenden Abspaltungen unter meinen Vorfahren irgendwie erblich belastet. Mein ganzes frühes Leben war jahreszeitlich zweigeteilt. Im Herbst, Winter und Frühling lebten meine Mutter und ich in der Stadt, in dem bescheidenen würfelförmigen Backsteinhaus, das mein Vater gekauft und glücklicherweise vor seinem Tod noch abbezahlt hatte. Aber mein wahres Gefühl von Zuhause und Zugehörigkeit erwachte im Sommer, wenn meine Mutter und ich in dieses Farmhaus zogen. Ich frage mich jetzt, ob Butler-das-Licht (ein Spitzname, den die Fischer von Kerry ihrem Leuchtturmwärter gegeben hatten) dasselbe Gefühl von Zugehörigkeit empfunden hätte, wäre es ihm gelungen, »vom Felsen herunterzusteigen« und wenigstens kurz auf die grünen Wiesen von Butler’s Court zurückzukehren. Oder gehörte er ganz dem Meer und dem Wind und vielleicht den Geistern der Mönche?
    Was ihn letztlich aus dieser Zugehörigkeit – sofern er sie denn empfand – befreite, war eine Reihe eskalierender Tragödien von solchem Ausmaß, dass sich kein Mensch dabei noch einen Funken Pflichtgefühl hätte bewahren können, geschweige denn Zuneigung zu der Umgebung, die dafür verantwortlich war.
    Als Erstes wurde das Leuchtfeuer, das Butler-der-Wärter stets so gewissenhaft am Brennen hielt, in dem Moment, als er die hundert Turmstufen erklommen hatte, um es zu inspizieren, von einer Monsterwelle zerschmettert. Ein Glasscherbenhagel ging auf ihn nieder und drang überall, wo Platz dafür war, in sein Fleisch ein, außerdem in sein Haar, seine Zunge und das Zahnfleisch und eines seiner strahlenden Augen, das fortan blind war. Zum Glück verhinderten die Schichten aus Wolle und Ölzeug, ohne die man auf der Insel erfroren wäre, die Verletzung lebenswichtiger Organe, und deshalb taumelte er die Stufen wieder abwärts in die Arme seiner entsetzten Frau, die ihm die nächsten zwei Tage Glassplitter aus Kopf, Mund und Händen zupfte.
    Ein neues Leuchtfeuer wurde ordnungsgemäß und sicher unter großer Gefahr geliefert und installiert, und Butler-das-Auge, wie ihn die von der Hauptinsel nun nannten, nahm seine Pflichten wieder auf. Mittlerweile hatte er zwei Söhne, die so häufig wegen des Sturms im Wärterhäuschen bleiben mussten, dass sie sofort lauthals ins Freie verlangten, sobald der Wind auch nur ein wenig abklang oder gar ein vereinzelter Sonnenstrahl durch die

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