Der Schmetterlingsbaum
wirtschaftete und spielte. Ich kannte diesen Wald inzwischen so gut, dass mir die Rinde vieler Bäume so vertraut war wie Häuser in einer Wohnstraße. Ich folgte dem Trampelpfad, den die Kühe vom einen Ende des Waldes zum anderen getreten hatten, und rief Teos Namen. Ich suchte unter Wacholderbüschen und Sumachgewächsen. Es kam keine Antwort. Es war überhaupt völlig still bis auf den Wind in den Kronen der letzten verbliebenen großen Laubbäume und dem weichen Rascheln von Zweigen, die ich streifte. Gelegentlich gehörten diese Zweige den wilden Himbeersträuchern, nach denen ich angeblich suchte, und ich musste immer wieder ihre Dornen aus meinen Kleidern herauslösen. Das behinderte mein Vorankommen und machte mich nervös und ängstlich, und es kam mir der Gedanke, ich könnte sterben, wenn ich Teo nicht fand, wenn er sich verirrt hatte. Nicht, dass er sterben könnte, weil er sich verirrt hatte, sondern dass ich sterben würde, weil ich ihn verloren hatte, und ich weiß noch, dass ich dieses Gefühl schon damals, mit zehn oder elf Jahren, für verschroben, unangemessen, verzweifelt hielt. Dann wusste ich auf einmal, instinktiv, dass er in der Nähe war.
Er saß an einem Fleck, an dem ich drei Mal vorbeigekommen war, ohne ihn zu bemerken, angelehnt am Stamm einer Banks-Kiefer, deren untere Äste fast bis zum Boden reichten und ein gutes Versteck boten. Seine Arme lagen verschränkt auf seinen angezogenen Knien, und darauf ruhte sein dunkler Kopf. Ich dachte, er schlief. Aber er schlief nicht; als ich unter den Ästen hindurch zu ihm kroch, hob er den Kopf und sah mich mit vollkommener Arglosigkeit und tiefstem Kummer an. Nie wieder sah ich einen so reinen Ausdruck des einen oder anderen Zustands. Seine kleinen braunen Hände waren zu Fäusten geballt, und eine getrocknete Tränenspur auf jeder Wange zeigte, dass er geweint hatte. Sogar seine Stiefel, die Seite an Seite auf den ockergelben Kiefernadeln standen, schienen mir von Kummer erfüllt.
»Ist egal«, sagte ich, wie Mandy zuvor. Wie Regentropfen fiel das Sonnenlicht in Flecken zwischen den Bäumen hindurch auf seine Schultern. Der Wind bewegte die Äste über uns.
» Abandonado« , sagte er.
Ich wusste genau, was er meinte. Als ich ein paar Tage zuvor mit meiner Mutter die Sanctuary Line entlanggegangen war, um Wiesenblumen zu pflücken, hatten wir im Straßengraben drei Kätzchen gefunden. »Ausgesetzt«, hatte meine Mutter gesagt, und genau so kam Teo sich vor. Bis zu diesem Augenblick hatte ich die drei Kätzchen für die unglücklichsten Wesen der Welt gehalten. Und das Wort human hatte ich am selben Tag kennengelernt, denn so nannte sich der Verein, zu dem wir die Kätzchen dann brachten. An meinen Vettern und ihren Freunden war an diesem Tag nichts Humanes.
»Ich glaube, sie haben’s vergessen«, sagte ich, wünschte, es wäre wahr, und wusste, dass es nicht stimmte.
Er sah mich nicht mehr an. Seine Demütigung war greifbar. »Estoy aparte« , sagte er.
»Nein«, widersprach ich, und als er keine Antwort gab, sagte ich: »Okay, dann bin ich das auch. Ich bin auch aparte .«
Warum steht von dieser Stelle an alles still, warum erinnere ich mich nicht, wie wir aus diesem Wald in unser Leben zurückkehrten? Irgendwann muss ich zum Abendessen auf der Sonnenveranda des Hauses gerufen worden sein, und Teo muss zur Baracke abgebogen sein – es muss so gewesen sein, aber ich weiß nichts mehr davon. Wenn ich heute an diesen Tag denke, kommt mir die irrsinnige Idee in den Sinn, dass ich, ginge ich jetzt durch die Tür und hinaus in den Wald, folgte den Trampelpfaden der Kühe und suchte lang genug und gründlich genug im Dickicht, die zwei Kinder unter dieser Banks-Kiefer sitzen fände, und wenn ich sie fände, dafür sorgen könnte, dass alles einen anderen Verlauf nimmt. Mandy, das blonde Haar wie einen Heiligenschein um den Kopf, würde nach wie vor mit ihren Brüdern im See plantschen, Teo und ich würden in unserem Bach Dämme bauen, und er wäre frei von der Überzeugung, dass niemand ihn wollte. Mein Onkel würde die Pfirsichernte planen oder zwischen seinen Obstbäumen durchs Gras wandern und prüfen, wie seine McIntosh-Äpfel reiften. Aber heutzutage ist dieser Wald ein undurchdringliches Dickicht. Die Holsteinkühe gibt es seit vielen Jahren nicht mehr, und ihre Wege sind längst zugewachsen. Streben die Bäche noch immer zum See hin? Flitzen die kleinen braunen Forellen noch immer durchs schattige Wasser? Und die Kinder, wenn sie noch
Weitere Kostenlose Bücher